Murakami und Kafka – ein Vergleich

Murakami2Ein „kafkaesker Alptraum“ steht im Klappentext des Buches „Die unheimliche Bibliothek“ von dem japanischen Schriftsteller Haruki Murakami. Dieser Aussage musste ich einfach auf den Grund gehen.

In „Die unheimliche Bibliothek“ geht ein Junge in eine Bibliothek, um geliehene Bücher zurückzubringen. Und weil er noch Bücher zu einem bestimmten Thema sucht, schickt ihn die Bibliothekarin zu einem Raum, der im Keller der Bibliothek liegt. Schon als der Junge dort anklopft, ist ihm mulmig zumute. Als er eintritt trifft er auf einen seltsam aussehenden alten Mann, der ihm bedeutet, dass er die gewünschten Bücher nicht mitnehmen kann, sondern in der Bibliothek lesen muss. Als der Junge nach einigem Zögern zustimmt, führt ihn der alte Mann durch ein dunkles Labyrinth, das zum Lesesaal führt. Statt in einem Lesesaal landet der Junge jedoch in einem dunklen Verlies. Hier stellt ihm der alte Mann zur Aufgabe, die drei Bücher innerhalb eines Monats zu lesen und auswendig zu lernen. Der Junge versteht die Welt nicht mehr, doch ihm bleibt nichts anderes übrig, als in dem Verlies zu bleiben und mit dem Lesen zu beginnen. Der Hüter des Verlieses, ein „Schafsmann“, hat Mitleid mit dem Jungen und bringt ihm täglich Leckereien. Auch ein schönes junges Mädchen versorgt den Jungen im Verlies. Obwohl sie aufgrund ihrer zerstörten Stimmbänder nicht sprechen kann, kommunizieren sie mühelos. Nach einiger Zeit bringt der Schafsmann endlich Licht ins Dunkel und erklärt dem Jungen, dass der alte Mann Gehirne, die mit Wissen vollgestopft sind, besonders gerne mag. Nun muss der Junge um sein Leben fürchten. Mit Hilfe des Schafsmannes will der Junge schließlich fliehen, doch ein Labyrinth zu durchqueren, ist gar nicht so einfach…

„Das Blöde an einem Labyrinth ist, dass man erst am Ende weiß, ob der Weg, für den man sich entschieden hat, richtig oder falsch war. Und wenn man am Ende merkt, dass man sich geirrt hat, ist es meistens zu spät.“

Die Geschichte erinnerte mich an Kafkas Erzählung „Vor dem Gesetz“. In dieser bittet ein Mann vom Land um Einlass in das Gesetz. Der Türhüter, in einen Pelzmantel gekleidet, erlaubt ihm dies jedoch nicht. So bleibt der Mann vom Land vor dem Türhüter sitzen und versucht immer wieder ihn zu überreden, ihm den Einlass zu gewähren. Der Türhüter sagt dem Mann, dass er es versuchen könne, doch dass er bedenke solle, dass er, der Türhüter, sehr mächtig sei. Der Mann traut sich nicht selbständig einzutreten und wartet lieber, bis er die Erlaubnis erhält. Doch er wartet bis er alt und grau ist. Auf die letzte Frage des Mannes, warum in all den Jahren sonst niemand um Einlass in das Gesetz gebeten habe, erhält er die Antwort, dass der Eingang einzig für den Mann selbst bestimmt war.

Im Unterschied zu Kafkas Mann vom Land, der den Raum des Gesetzes aus Angst vor dem Verbot des Türhüters nicht betritt, kommt der Junge in „Die unheimliche Bibliothek“ durchaus in den Lesesaal, doch er kommt nicht mehr heraus. Während also bei Kafka dem Menschen der Weg, der für ihn bestimmt ist, durch eine vermeintlich höhere Instanz (Türhüter) versperrt ist und er das Wagnis, die Tür zu durchschreiten nicht eingeht, soll der Junge in Murakamis Geschichte für das Wissen, das er in dem Lesesaal erlangt, sein Leben geben, und zwar an eine höhere Instanz (alter Mann). Die Entscheidung zu fliehen trifft der Junge dabei selbst und er folgt auch seiner Entscheidung.
Was Murakami und Kafka in ihren Geschichten gemeinsam haben ist aber, dass es nicht die Umwelt ist, die die absonderlich wirkenden Begebenheiten hervorrufen, sondern seltsame Figuren (Türhüter, alter Mann, Schafsmann), die durch absurde Aussagen und Verhaltensweisen den namenlosen Hauptfiguren begegnen und sie ins Unglück stürzen.

Übrig blieb mir die Frage, was von uns übrig bleibt, wenn wir unser Leben gänzlich einer höheren Instanz, zum Beispiel einer Wissenschaft oder einem Arbeitgeber, überlassen. Murakamis Geschichte antwortet mit: Einsamkeit.

Fazit
„Die unheimliche Bibliothek“ ist nicht nur für Kafka-Interessierte empfehlenswert. Auch wenn die Geschichte recht düster gehalten ist, was durch die zahlreichen Illustrationen von Kat Menschik noch verstärkt wird, hinterlässt sie doch so etwas wie ein kleines Licht am Ende eines Tunnels.

Lisa
Murakami2Haruki Murakami: Die unheimliche Bibliothek
Mit Illustrationen von Kat Menschik
Ins Deutsche übersetzt von Ursula Gräfe
Verlag: Dumont
64 Seiten. 14,99 Euro
ISBN: 978-3832197179