Im Norden geht’s heiß her – von eigensinnigen Brüdern und gelungenen Theaterstücken

Mein Bruder und ich haben nicht allzuviel gemeinsam: er ist blond – ich bin brünett; er hat blaue Augen – ich grüne; er ist Heimatverbunden – ich weit davon entfernt; er mag elektronische Musik – ich akustische; er mag Wodka – ich mag Wein; er ruft mich am Wochenende von der besten Feier des Nordens an – und ich lese Freud; ich liebe Theater und er… hat noch nie eins besucht. Doch als ich vor kurzem zu meinem Bruder fuhr, hatte ich einen Plan: ich wollte mit ihm ins Theater.
Eine gute Woche vor Reiseantritt habe ich nach einem geeigneten Theaterstück gesucht. „Stella“ von Goethe: ein Schauspiel für Liebende – das passt nicht, wir sind ja Geschwister. Shakespeares „Macbeth“: interessant, die Premiere ist aber erst im Februar 2013. Dann Franz Kafkas „Der Prozess“: Perfekt! Ich greife also zum Hörer und wähle die Nummer von Deutschlands nördlichstem Theater und bitte die nette Stimme am anderen Ende der Leitung um zwei Karten für Samstagabend und erfahre: „Wir haben leider nur noch eine Karte.“ NEIN, denke ich und sage es auch. Nach einer Ladung Betteln und Flehen verspricht mir die nette Dame: „Wenn Sie mir ihre Nummer geben, kann ich Sie anrufen, falls Karten wieder freigegeben werden.“ Super, dachte ich, wenigstens habe ich so noch eine Chance auf einen kulturellen Abend mit meinem großen Bruder. Und tatsächlich, ich hatte Glück, denn einige Zeit später rief  mich ein Engel an und verlautete: „Ich konnte Ihnen zwei Karten für Samstagabend reservieren.“ Die Freude war groß und die Vorfreude auch. Als mein Bruder und ich dann am Freitag unser Abendessen zubereiteten, war es an der Zeit, ihm  zu beichten, was wir am Samstagabend tun würden.

„Ins Theater?“ fragte er mit einer leichten Skepsis und einer gehörigen Portion Spott. „Ja, ins Theater,“ antwortete ich schnell, „das wird super, ganz bestimmt, Du wirst sehen, das ist ganz…“ „Ist ja gut,“ unterbrach er mich, „wir gehen da hin.“ Alles klar, dachte ich, die zweite Hürde ist geschafft. Nun musste ihm nur noch die Aufführung  gefallen. Dann war es soweit, es war Samstag gegen 18:30 Uhr. Wir machten uns auf den Weg und spazierten durch die verschneite Straße zum Theater, genauer gesagt spazierte er und ich rannte halb, wegen seiner großen Schritte und stackste rum, wegen meiner neuen Schuhe. Doch wir kamen an und fanden einen guten Platz. Die Wartezeit bis zum Beginn der Vorstellung wurde uns mit moderner elektronischer Musik erleichtert. 1 zu 0 für mich, denn mein Bruder mag moderne elektronische Musik. Die Vorstellung begann:
Ein junger Mann Anfang dreißig, Josef K., wird in seiner Wohnung verhaftet, jedoch nicht ins Gefängnis gesteckt. Es folgt ein verwirrender Prozess, der nicht im Gericht, sondern in seinem Zimmer stattfindet. Josef K., auf der Suche nach seiner Schuld, wird dabei von einem Advokaten verwirrt, von Frauen verführt und von seinem Onkel beweint. Das Stück wurde von fünf begnadeten Schauspielern aufgeführt, die ihre Rollen überzeugend und mit ganzer Kraft ausfüllten. Vor allem die kafkaesken Autoritätsversuche, die in Kafkas Literatur immer wieder auffallen, wurden von Michael Kientzle (Josef K.) treffend zum Ausdruck gebracht. Die Kostümierung kam zwar an wenigen Stellen etwas fragwürdig daher, unterstützte aber auch das Verständnis des Zuschauers, indem die Schauspieler bei einem Rollenwechsel auch ihre Kostümierung änderten. Dies ist schließlich nicht immer der Fall, häufig genug gibt es Stücke, in denen Schauspieler ihre Rollen wechseln, aber die Kostümierung nicht und bis dann erst mal klar ist, welche Rolle gerade aus einem Kostüm spricht, ist ein Teil der Handlung verloren gegangen. Die Inszenierung war rundum gelungen, sie war ergreifend, lustig, interessant und die Schönheit der beiden Schauspielerinnen, gewürzt mit einer Prise Erotik, hat dem Stück eine aufregende Note verliehen (2:0 für mich). Zu guter Letzt wurde die Aufführung mit einem tosenden Applaus belohnt und die Worte des Torhüters hallten noch in uns nach, während mein Bruder und ich uns auf den Weg nach Hause machten. Mein Bruder fand seinen ersten Theaterbesuch richtig gut: 3:0 für mich und mir wurde wieder einmal klar, dass ich den besten großen Bruder der Welt an meiner Seite habe.

Eine schöne Zeit wünscht euch
Lisa