Menschseinlassen

Vor einigen Wochen besuchte ich innerhalb kurzer Zeit zwei recht unterschiedliche Veranstaltungen. Die eine ein Vortrag an meiner Universität, zu dem der relativ kleine Fachbereich Wissenschaftsjournalismus eingeladen und die Veranstaltung dann netterweise für die breite interessierte Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatte: Eckart von Hirschhausen sollte zum Thema Wissenschaft in den Medien sprechen. Die andere war abseits der Uni – Ort meiner Arbeit, meiner Erfolge und Misserfolge – angesiedelt, in der Stadt, in der Freizeit. Eine Kulturveranstaltung durch und durch, ein Poetry-Slam und noch dazu mit jazziger Musik. Mehrere unterschiedliche Redner, kein belehrender Charakter, sondern nur Ausdrücke der eigenen Meinung, Aufforderungen zur Auseinandersetzung gepaart mit emotionaler musikalischer Ansprache.

Ich gehe oft zu Poetry-Slam-Veranstaltungen. Manchmal nehme ich auch teil. Was mich begeistert an vielen dieser Veranstaltungen, ist die Menschlichkeit, die dort herrscht, der Respekt, der für jeden der Teilnehmer eingefordert wird, der Versuch, die Arbeit der Antretenden wert zu schätzen, in jedem Text und Auftritt etwas zu entdecken, mit dem man sich beschäftigen kann. Natürlich gibt es auch bei Slamveranstaltungen immer wieder Texte, die beleidigend sind, in denen jemand seinen Frust beispielsweise über eine beendete Beziehung oder die generelle Ungerechtigkeit in der Welt mit simplen Mitteln hinausbläst und dabei das Publikum mit Mitteln der Rhythmisierung mitreißt. Nach so einem Auftritt gibt es dann jedoch den guten Moderator, der dieses gerade stattgefundene Ereignis als einen Auftritt markiert und dafür sorgt, dass die Zuschauer dem folgenden, vielleicht leiseren Text wieder die volle Aufmerksamkeit widmet und jenseits des emotionalen Rauschs die Qualitäten des nächsten Textes sucht und findet. Auf der Bühne herrscht die Regel „Respektiert den Poeten“.

Wenn man an viele der heutigen Fernsehshows denkt, dann müsste man sich wohl vorher stark überlegen, ob man dort auftreten oder auch nur in der ersten Reihe sitzen möchte. Schließlich muss man sich für sein Verhalten und seine präsentierte Meinung dort vor allen potenziellen Fernsehzuschauern rechtfertigen können, wenn man sich keine Kunstfigur schafft und als integrer Mensch angesehen werden will. Diese Frage „Wie stehe ich denn dann da?“, Scham und Angst, sein Gesicht zu verlieren, hält viele Leute davon ab, in wie auch immer gearteter Öffentlichkeit ihre Meinung zu zeigen, sich selbst zu präsentieren und nicht nur einen Stereotypen, den man notfalls abstreifen und durch einen anderen ersetzen kann, ohne seinem Selbst dabei geschadet zu haben.

Um ein authentisches ehrliches Bild von jemandem zu bekommen, muss man die Angst von ihm nehmen, mit sich selbst nicht zu genügen, nicht ausreichend zu sein. Was bedeutet es für mich, jemanden zu respektieren? Seine Würde anzuerkennen. Ihn würdig zu behandeln. Peinlichkeit nicht zuzulassen, die an jemandem festkleben könnte. Es mag wenig humorvoll wirken, wenn ich Peinlichkeit und Scham verbannen möchte. Viel Komik beruht eben darauf, über Dinge zu lachen, die jemandem zustoßen und ihn dabei unfreiwillig komisch wirken lassen. Ich will nicht den Humor verbieten, über Unerwartetes zu schmunzeln. Erfüllt dieser Spaß aber die Maßgaben des Respekts, die Würde des anderen zu erhalten, sind Peinlichkeit und Scham schon umschifft. Wer sich darauf verlassen kann, auch in unangenehmen Situationen menschlich behandelt zu werden, braucht nicht in Verteidigungsmechanismen zu verfallen und kann sich frei präsentieren. So eine Atmosphäre und fühlbare Haltung zu schaffen, halte ich für ein großes Talent, das einige Menschen besitzen. Eckart von Hirschhausen ist einer von ihnen und deshalb sehe ich mir auch nicht nur im Fernsehen, sondern auch live und in der ersten Reihe sitzend gerne an, was er macht – egal ob er sein Programm zum Besten gibt oder es nur unauffällig in einen thematischen Vortrag einfließen zu lassen versucht – wer mit ihm spricht, muss nicht fürchten, für eine schmutzige Pointe auf eigene Kosten missbraucht zu werden, vielmehr entwickelt sich die humoristische Aussage von beiden Gesprächspartnern ausgehend und vermittelt ein positives Gefühl. Es geht mir nicht um eine Wohlfühlberieselung. Aber ganz unabhängig davon, dass ich Unterhaltung schätze, bei der Beziehung geschaffen und nicht zugunsten momentaner Erquickung vernichtet wird, finde ich, dass eine solche Atmosphäre erst die Freiheit gibt, sich auf die zu findenden qualitativen Inhalte zu konzentrieren und sich damit auseinandersetzen.

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