Am Weihnachtsabend

Von Ida Gräfin Hahn-Hahn

Stehst du freundlich wieder offen,
Meiner Kindheit Paradies,
Das ich unter frohem Hoffen,
In der Jugend Mut verließ? –

Haben Zauberlandes Räume
Hell sich wieder aufgetan,
Schaukeln meine alten Träume
Wieder mich in süßem Wahn?

Gießt der Kerzen muntrer Schimmer
Licht durch meine Lebensnacht,
In der schon seit Jahren nimmer
Ruhesterne mir gelacht? –

Wär ich niemals doch geschieden
Aus dem engbeschränkten Reich;
Dann wär meiner Seele Frieden
Noch wie damals ewig gleich.

Ach, nun scheinen Weihnachtskerzen
Wie der Fackel düstrer Zug,
Wenn zum Grab gebrochne Herzen
Auf der Bahre hin man trug. –

Oder wie die Abendröte
Noch den Horizont bemalt,
Wenn sich schon die Nacht erhöhte,
Längst nicht mehr die Sonne strahlt.

Abglanz des verlornen Glückes
Find ich, wo sonst Glückes Spur:
Kenne Gunst des Augenblickes
Diesen bleichen Schatten nur.

Matt versanken kleine Freuden
Vor der Liebe Sonnenglanz. –
Nach der Liebe steht das Scheiden,
Es zerriss mir meinen Kranz.

Flattern auch noch kleine Blüten
Hier und dort mir freundlich zu,
Nehm ich sie wie sie sich bieten;
Doch sie geben keine Ruh.

Leuchtet nur ihr Weihnachtskerzen,
Durch die Winternacht so mild,
Also strahlt durch Gram und Schmerzen
Meiner einz’gen Liebe Bild.

Das durch Kreuzreime gestaltete Gedicht Am Weihnachtsabend bezieht den Leser, in den ersten drei Strophen jeweils, mit Fragen in seine Gedankenwelt ein. Das lyrische Ich trauert um den Verlust seiner kindlichen Naivität („Kindheit Paradies“ S.1,V.2), die es in Hoffnung auf ein freudiges Erwachsensein verließ („Das ich unter frohem Hoffen, In der Jugend Mut verließ?“ ebd.,V3f). Weiter verspürt es einen Anflug der kindlichen Fantasie, des „Zauberlandes“ (S.2,V.1), das ihm hell erscheint und wie in einem „süßen Wahn“ (S.2,V.4) träumen lässt. Das lyrische Ich ist alt, oder fühlt sich zumindest so, denn das Kerzenlicht scheint durch dessen „Lebensnacht“ (S.3, V.2). Außerdem findet es seit langem weder inneren Frieden, noch empfindet es Freude („In der schon seit Jahren nimmer Ruhesterne mir gelacht?“ S.3,V.3f). Im weiteren Verlauf des Gedichts erfährt der Leser Hinweise auf die Gründe der Traurigkeit des lyrischen Ichs, so wurde es von dem „engbeschränkten Reich“ (S.4,V. 2) der kindlichen Naivität getrennt und die „zum Grab gebrochne Herzen“, die „Auf der Bahre hin man trug“ (S.5,V.3f), lassen Verlust durch den Tod verlauten. Und so sind die „kleinen Freuden“ (S.8,V.1), die dem lyrischen Ich noch zuteil werden, nur „Matt“ (ebd.) im Vergleich zu der vergangenen strahlenden Liebe („Vor der Liebe Sonnenglanz.“ ebd,V.2) und bringen keine Befriedigung („Doch sie geben keine Ruh.“ S.9,V.4), so dass es in einer gebrochenen, depressiven Stimmung verweilen muss. In der letzten Strophe schließlich, fordert das lyrische Ich die Weihnachtskerzen auf, “durch Gram Schmerzen“ (V.3) hindurchzuleuchten und verrät noch, dass diese dem Verlust seiner „einz´gen Liebe“ (V.4) verschuldet sind.

Insgesamt trüben Wortverbindungen wie „Fackel düstrer Zug“ (S.5,V.2) und „Diesen bleichen Schatten“ (S.7,V.4) die eigentlich feierliche Weihnachtsstimmung, welche hier durchaus auch, mit Worten wie „Kerzen muntrer Schimmer“ (S.3,V.1), „meiner Seele Frieden“ (S.4,V.3) oder „Gunst des Augenblickes“ (S.7,V.3), evoziert wird. Doch die gewünschte Besinnlichkeit bleibt der Wehmut verhaftet und sinkt herab zur Traurigkeit, weil der Versuch des lyrischen Ichs, die kindliche Naivität heraufzubeschwören und damit die Freude über das Weihnachtsfest mit all seinen wärmenden Lichtern, der kalten Realität nicht standhalten kann.

Ida (Marie Louise Friederike Gustave) Gräfin von Hahn-Hahn wurde am 22.06.1805 in Tressow (Mecklenburg), als Abkömmling des Hahn-Geschlechts geboren. Ihr Großvater, der Philosoph und Astronom Friedrich von Hahn, hatte dem altadeligen Geschlecht zu großem Reichtum verholfen, doch als Familie eines mehrfachen Theaterleiters und Schauspielers leiden Ida, ihre Geschwister und ihre Mutter unter den finanziellen Ausschreitungen des Vaters. Die Geldsorgen belasten das Familienleben so sehr, dass Idas Eltern sich im Jahre 1809 scheiden lassen.

Nach einer gescheiterten Zweck-Ehe mit ihrem Vetter, aus der Idas Tochter und ihr Doppelname hervogeht, führt sie seit 1829 eine freie Ehe mit Adolf Baron Bystram. Ihre geistig behinderte Tochter, Antonie, gibt sie derweil in Pflege. In den Jahren mit Bystram pendelt sie zwischen verschiedenen Städten hin und her (Berlin, Dresden, Greifswald, Wien und Giekau). Ausserdem unternimmt sie Reisen nach Frankreich, Italien, England, Schottland, Irland und in den Orient. Als Bystram 1849 verstirbt, konvertiert Ida zum Katholizismus und gründet 1854 in Mainz ein Kloster (Zum guten Hirten), in dem sie bis zu ihrem Tode am 12. Januar 1880 verbleibt, jedoch ohne dem Orden anzugehören.

Ida_Gräfin_von_Hahn-Hahn

 

 

 

 

 

 

Bildnachweis: Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/Ida_Gräfin_Hahn-Hahn; Bild gemeinfrei)