Abendmuse

Georg Trakl – Abendmuse

Ans Blumenfenster wieder kehrt des Kirchturms Schatten
Und Goldnes. Die heiße Stirn verglüht in Ruh und Schweigen.
Ein Brunnen fällt im Dunkel von Kastanienzweigen –
Da fühlst du: es ist gut! in schmerzlichem Ermatten.

Der Markt ist leer von Sommerfrüchten und Gewinden.
Einträchtig stimmt der Tore schwärzliches Gepränge.
In einem Garten tönen sanften Spieles Klänge,
Wo Freunde nach dem Mahle sich zusammenfinden.

Des weißen Magiers Märchen lauscht die Seele gerne.
Rund saust das Korn, das Mäher nachmittags geschnitten.
Geduldig schweigt das harte Leben in den Hütten;
Der Kühe linden Schlaf bescheint die Stallaterne.

Von Lüften trunken sinken balde ein die Lider
Und öffnen leise sich zu fremden Sternenzeichen.
Endymion taucht aus dem Dunkel alter Eichen
Und beugt sich über trauervolle Wasser nieder.

 

Das in vier Strophen mit je vier Versen gegliederte Gedicht Abendmuse (Gedichte, 1909-1913) von Georg Trakl wird von der Thematik des Schlafes getragen. Ein sechshebiger Jambus mit nahezu ausschließlich weiblichen Kadenzen, (nur im zweiten Vers der ersten Strophe zeigt sich eine männliche), ist mit einem umarmendem Reimschema verbunden.

Im Laufe des Gedichts verdichtet sich die anfängliche „Ruh“ und das „Schweigen“ (V.1), es wird „Dunkel“ (V.3) und es wird ein „schmerzliche[s] Ermatten“ ausgedrückt. Das „Gepränge“ (V.6), also der Prunk, ist „schwärzlich“ (ebd.) eingehüllt, im Stall schlafen bereits die Tiere und die Augen-„Lider“ (V. 13) der Menschen schließen sich „trunken“ von Lüften. Wiederholt ist es „Dunkel“ (V.15) als Endymion, der ewig Schlafende, sich über „trauervolle Wasser“ (V.16) beugt. Die mythologische Figur Endymion ist der Schönling (und König von Elis), in den sich die Mondgöttin Selene (später Artemis, noch später Diana) verliebte. Um ihn vor dem Tod zu bewahren, schenkte sie ihm ewigen Schlaf und ewige Jugend. Neben den dunklen enthält das Gedicht auch helle Komponenten, wie „Blumenfenster“ (V.1), „Garten“ (V.7), „sanften Spieles Klänge“ (ebd.) oder auch „weißer Magier“ (V.9), die aber im Vergleich zu der überbordenden Menge an Dunkelheit diese nicht erhellen können.

Girodet_-_Sommeil_Endymion
Der schlafende Endymion
(Anne Louis Girodet-Trioson, 1791, Louvre in Paris)

Formal ist das Gedicht dem expressionistischem Reihungsstil zuzuordnen, der für Trakls Lyrik in der Zeit von 1910 bis1912 bezeichnend ist. Trakl selbst bezeichnet diesen Stil als „bildhafte Manier, die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet“ (1) . In den vier Bildteilen der Abendmuse zum Beispiel, sehen wir zunächst ein Fenster, in dem Blumen stehen (oder aus dem heraus wir Blumen sehen können), das durch den Schatten des Kirchturms, hinter dem die untergehende Sonne stehen mag, verdunkelt wird. Die vom arbeitsreichen Tagesgeschäft „heiße Stirn“ (V.2) kommt zur Ruhe und der Brunnen, im Schatten der Kastanie, verfällt mit der Dunkelheit von einem Wasserspender zu einem schwarzen, bedrohlich wirkendem Loch. In der zweiten Strophe bietet das Gedicht uns ein Bild von einem leeren Marktplatz, auf dem das, was tagsüber prunkvoll erscheint, wie etwa Häuser oder schmukvolle Tore, in dunkles Licht getaucht ist. In einem nahen Garten gesellen sich „Freunde nach dem Mahle“ (V.8) zusammen, während leise Musik gespielt wird. In der dritten Strophe wiederum sehen wir einen „weißen Magier“ (V.9), vielleicht einen weisen Großvater, der seinen gespannten Zuhörern Märchen erzählt während in den Hütten und im Stall Ruhe einkehrt. Im vierten Vers schließlich beginnen die Menschen die Augen zu schließen („sinken balde ein die Lider“, V.14) und zu träumen („Und öffnen leise sich zu fremden Sternenzeichen“, V.14). Auch sehen wir den schönen Endymion sich übers Wasser beugen. Der „einzige Eindruck“, der durch die Komposition der einzelnen Bilder entsteht, ist der des müde werdens, des „Ermattens“ (V.4) nach einem anstrengenden Tag. Das in-den-Schlaf-Fallen bildet dabei eine Form der Erlösung („Da fühlst du: es ist gut!“, V.4) und manifestiert sich in der mythologischen Figur Endymion. Die „trauervolle[n] Wasser“ (V.16) über die er sich beugt, können in diesem Zusammenhang als der menschliche Geist, das Unbewusste (2), der Arbeiter verstanden werden, die in Folge der Industrialisierung wie Nutztiere ihrem Arbeitstag nachzugehen gezwungen waren. Eine Kritik dieser sozialen Ungerechtigkeit (unter anderem) ist typisch für Literaten und Künstler des Expressionismus (etwa 1905-1925).

GeorgTrakl
Georg Trakl

Georg Trakl wurde am 3. Februar 1887 als Sohn des Eisenhändlers Tobias Trakl und seiner Frau Maria Catharina in Salzburg geboren. Fünf Jahre später wird seine Schwester Margarete geboren, eine von sechs Geschwistern, zu der er eine besonders innige Beziehung aufbaut, die sich sehr stark in Trakls schriftstellerischem Werk widerspiegelt. Insgesamt kann man das Leben Trakls wohl als gescheitert bezeichnen. Nachdem er mit dreizehn Jahren anfing Gedichte zu schreiben, kommt er mit 15 Jahren zum ersten Mal mit Drogen in Kontakt. Während seine Mutter, die bereits Drogensüchtig ist, jedoch nach außen hin die Fassade einer normalen Bürgersfrau aufrecht erhalten kann, gelingt dies Trakl später nicht. Er war eher scheuer Natur und die Beziehung zu seiner Schwester soll so intim gewesen sein, dass seine Biographen eine Liebesbeziehung vermuten. Mit achtzehn Jahren verlässt er das humanistische Staatsgymnasium Salzburg mit der mittleren Reife, den gymnasialen Abschluss hat er nicht erreicht. Seine anschließende Apothekerlehre vollendet Trakl im Jahr 1908. Nebenher schreibt er nicht nur Gedichte, sondern auch Theaterstücke (Totentag sowie Fata Morgana), die zwar 1906 im Salzburger Stadttheater aufgeführt werden, jedoch erfolglos bleiben, so dass er die Manuskripte eigenhändig vernichtet. Es folgt 1908 bis 1910 ein Pharmazie-Studium in Wien, das von privaten Beschäftigungen mit Literatur, Malerei, Architektur und Musik begleitet wird. Den Höhepunkt seiner Schaffenszeit erreicht der frühexpressionistische Literat zwischen den Jahren 1910 und 1914, dabei zeichnet sich sein Werk vor allem durch herbstliche Szenen und dunkle Bilder (Abend, Nacht, Sterben, Vergehen) aus. Zwischendurch versucht Trakl sich als Militärapotheker in Innsbruck, doch seine Drogensucht verhindert immer wieder ein geregeltes Berufsleben. Er fällt zunehmend in Depressionen und leidet an Geldmangel.

Georg_Trakl_-_Erstausgabe_1913
Georg Trakl – Gedichte, Erstausgabe 1913 im Kurt Wolff Verlag

(Urheber: Thomas Bernhard Jutzas, CC-Lizenz)

Vor allem im „Brenner“, einer kulturpolitischen Monatszeitschrift Ludwig von Fickers (1180-1967), der die lyrische Begabung Trakls erkannte, erscheinen seit 1912 Trakls Gedichte, aber auch in Karl Kraus´ Zeitschrift „Die Fackel“. Ein Gedichtband ist weiterhin in der Reihe „Der jüngste Tag“ (1913, Hrsg. ist der Verleger Kurt Wolff) erschienen.
Als der Erste Weltkrieg 1914 ausbricht, wird Trakl als Sanitätsoffizier in der heutigen Ukraine eingesetzt. Sein ohnehin schon schwaches Nervenkostüm erträgt jedoch weder die Grausamkeiten des Krieges noch seine Aufgabe, die schwer verwundeten Soldaten ohne ausreichende Hilfsmittel zu versorgen, so dass er im Zuge eines Nervenzusammenbruchs selbst in ein Lazarett (Krakau) gebracht wird. Hier schreibt Trakl die Gedichte Grodek, Im Osten und Klage. Trakl befürchtet aufgrund seines Zusammenbruchs von dem Kriegsgericht angeklagt zu werden und stirbt am 3. November 1914 mit jungen 27 Jahren an einer Überdosis Kokain. 1915 erscheint schließlich sein Gedichtband Sebastian im Traum, den er zu Lebzeiten noch selbst zusammenstellte und drucken ließ.

1) Brief an Erhard Buschbeck vom Juli 1910, Dichtungen und Briefe, Band I, S. 478), Quelle: Wikipedia
2) Carl Gustav Jung (1875-1961) interpretiert in seiner Psychoanalyse Wasser als Symbol für das Unbewusste.

Alle Bildquellen: Wikipedia (Georg TrakelEndymion)