Amerika

Friederike Kempner, 1903

Amerika, das Land der Träume,
Du Wunderwelt so lang und breit,
Wie schön sind Deine Kokosbäume,
Und Deine rege Einsamkeit!

Mit Deinen blau und roten Vöglein,
Mit Deinem stolzen Blumenheer,
Mit Deinen tausend Schiff’ und Segeln,
Von denen voll Dein weites Meer.

Mit Deinen smaragdgrünen Blättern,
Mit Deiner duftig kühlen Nacht,
Zu nah’n Dir auf des Schiffes Brettern,
D’ran hab’ als Kind ich schon gedacht!

Trotz Deiner prächtig bunten Schlangen,
Trotz Deiner heißen Sonnenglut,
Gilt Dir mein eifriges Verlangen,
Das mächtig nun und nimmer ruht! –

 

„Amerika“ erzählt in vier Strophen mit jeweils vier Versen von der Anziehungskraft der Vereinigten Staaten und dem damit verbundenem Traum von Freiheit und Glück.
Jede Strophe bildet einen Satz, der mit einem Satzzeichen abgeschlossen ist; ein durchgängiger Kreuzreim führt durch das Gedicht.

Die ersten beiden Strophen malen ein Bild von diesem zauberhaften Land, das einer „Wunderwelt“ gleicht. Hier scheinen kein Ziel unerreichbar und kein Weg verwehrt. So „lang und breit“ wie die Ausdehnung dieses Landes, so unendlich erscheinen die Möglichkeiten des einzelnen. Es ist ein Land, das immer in Bewegung ist, das nie zur Ruhe zu kommt. In diesem bunten Treiben ist anscheinend niemand allein und doch kann in der Hektik und der Anonymität der einzelne einsam sein.

Die zweite Strophe charakterisiert sich durch die zahlreichen Motive aus der Natur. Vögel, in den Nationalfarben Rot und Blau und das weite Meer unterstreichen bildhaft die Freiheit, die Amerika verspricht. Amerika ist ein Land der Einwanderung, an dessen Häfen „tausend Schiff‘ und Segel“ täglich ankommen. Neben der Weite ist es auch die Schönheit der Staaten, die in der Metapher „Blumenheer“ einen Ausdruck bekommt und viele Menschen anzieht und fasziniert.

In der zweiten Hälfte des Gedichtes rückt die persönliche Verbindung des lyrischen Ichs zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten in den Vordergrund. Die besondere Beziehung zu Amerika wird auch in der konsequenten Anrede „Du“ Ausdruck verliehen, die häufig mit der Anapher „Mit“ verbunden ist. Die Sehnsucht, das Land zu bereisen, entstand schon zu Kinderzeiten. Es ist ein „eifriges Verlangen, Das mächtig nun und nimmer ruht“ und sich auch nicht von dem Treiben, der Anonymität und der „heißen Sonnenglut“ im Sommer schmälern lässt.

Zahlreiche Adjektive (blau, rot, grün, bunt, lang, breit, rege, stolz, schön, etc.) erzeugen im Leser ein farbenfrohes Bild von dem Land, dem die Sehnsucht gilt.

Seit im 17. Jahrhundert die erste eurpäische Kolonie auf dem späteren Gebiet der USA gegründet wurde, emigrierten Deutsche in die Vereinigten Statten. Die Deutschen bildeten bis ins 20. Jahrhundert die stärkste Einwanderergruppe. Der Großteil kam zur Zeit der Deutschen Revolution  1848/49 und dem Ersten Weltkrieg (1914–18). Der Höhepunkt wurde 1882 erreicht, in diesem Jahr reisten etwa 250.000 Deutsche ein.

Friederike_Kempner
Friederike Kempner (Bildquelle: Wikipedia)

Friederike Kempner wird am 25. Juni 1828 in eine reiche jüdische Familie in Opatów hineingeboren. Sie wächst mit vier Geschwistern auf dem Rittersgut in Droschkau, Schlesien auf. Die Mutter unterrichtet ihre Kinder selbst. Sie bringt Friederike die französische Sprache sowie Literatur und die jüdische Aufklärung nah.

Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ist innig und so wird der Tod beider Eltern 1868 zu einem traumatischen Erlebnis für die deutsche Dichterin. Ihre Trauer findet Ausdruck in zahlreichen Gedichten, die Friederike Kempner nach dem Tod ihrer Eltern schreibt. Veröffentlicht wird ihr Werk „Gedichte“ erstmals 1873. Der Schriftsteller Paul Lindau rezensiert die Gedichte in seiner Wochenschrift „Die Gegenwart“ auf ironische Weise und stellt sie einem breiten Leserpublikum vor. Charakteristisch für Friederike Kempner wird die unfreiwillige Komik, die ihr den Namen „schlesische Nachtigall“ einbringt und zahlreiche Parodien nach sich zieht. Die Legende, dass die Familie die Neuauflage der „Gedichte“ selber aufkaufte, um weiteren Spott zu vermeiden, kann aber nicht belegt werden. Neben den lyrischen Texten schreibt Kempner auch Novellen, Dramen und Streitschriften. Letzteres verbindet ihr literarisches Wirken mit ihrem sozialen Einsatz. Sie engagiert sich für die Armenfürsorge und Krankenpflege.

Wie viele Menschen ihrer Zeit hatte Friederike Kempner große Angst davor, lebendig begraben zu werden und setzt sich deshalb erfolgreich für die Errichtung von Leichenhäusern und die Verlängerung der Karenzzeit (zwischen Tod und Bestattung) ein. Als Auszeichnung dafür erhält sie 1871 die „Gedenkmünze für Pflichtreue im Kriege“. Über Liebesbeziehungen ist wenig bekannt; Friederike Kempner bleibt unverheiratet. Ihr soziales Engagement und die Literatur prägen ihr Leben und so steht auf ihrem Grabstein, nachdem sie am 23. Februar 1904 stirbt, „Ihr Leben war geistiger Arbeit und Werken der Nächstenliebe geweiht“.