Abend am See

Von Georg Heym

Leis kommt die Nacht auf Dämmerwegen.
Du fühlst im Waldsee ein heimliches Regen.
Der Abendwind rauscht durch das Rohr so eigen
In des Sternengeflimmers tanzenden Reigen.

Still ruhn die Wogen in dem Silberschein
Des Monds, der sich erhebet wolkenrein.
Es öffnen die Seerosen ihren Silberkranz.
Ein nie geahnet Glück sie erfüllet ganz.

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Vier Paarreime bestimmen die zwei vierversigen Strophen des Gedichts „Abend am See“ von Georg Heym, das eine abendliche Szene beschreibt. Die Nacht schleicht auf „Dämmerwegen“ (V.1) heran, im nahe gelegenen Waldsee regt sich etwas und der Wind rauscht durch das Schilf-„Rohr“ (V.3), während die Sterne am Himmel flimmern. Auf die Wasseroberfläche des Sees, die von ruhigen „Wogen“ (V.5) sanft bewegt wird, fällt der „Silberschein“ (V.5) des Mondes, der sich an einem „wolkenreinen“ (V6) Himmel erhebt. Die Seerosen öffnen „ihren Silberkranz“ (V.7) und werden von Glück ganz erfüllt.

Zunächst macht das Gedicht den Eindruck, als handele es sich um die Beschreibung einer abendlichen idyllischen Natur-Szene. Schließlich lässt aber das Erblühen der Seerosen den Leser stutzen, denn tatsächlich gibt es Seerosen, die nur im Sonnenschein blühen, jedoch keine, die sich erst in Dunkelheit öffnen. Wie es für einen expressionistischen Lyriker wie Georg Heym typisch ist, ist der Blick des lyrischen Ichs hier nach Innen gerichtet. Es beschreibt eine Gefühlswelt, die in die Metaphorik einer Natur-Szene gehüllt ist. Dies lässt sich an verschiedenen Stellen des Gedichts nachvollziehen.

Die Nacht bricht nicht herein, sondern trifft „Leis“ (V.1) auf den Waldsee, der symbolisch für das Bewusstsein (See) in Verbindung mit der Natur (Wald) steht. Der sich erhebende Mond kann hier als ein zu-sich-Kommen gedeutet werden, der wolkenreine Himmel symbolisiert einen klaren Verstand, den keine Gedanken (Wolken) trüben. Der Silberschein verbindet den Mond und den See miteinander und findet sich auch in dem “Silberkranz“ (V.7) der Seerosen wieder. In der Farbensymbolik steht Silber für den intuitiven Teil des Verstandes und fließende Gefühle.

Auch, dass die einzige persönliche Ansprache in dem Gedicht „Du fühlst“ (V.2) mit dem Fühlen in Verbindung steht, weist darauf hin, dass der Blick des lyrischen Ichs auf eine innere Gefühlswelt gerichtet ist und nicht auf eine äußere Szene fällt.

Vor allem in der ersten Strophe erweckt das Gedicht eine nahezu unheimliche Stimmung (Nacht auf Dämmerwegen, heimliches Regen, Abendwind rauscht, tanzender Reigen),

dieses entpuppt sich aber mit der zweiten Strophe mit den ruhenden Wogen, dem Silberschein, der Erhebung an einem wolkenreinen Himmel, den sich öffnenden Seerosen und dem „nie geahnet Glück“ (V.8) als ein glückseliges Gefühl.
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Georg Heym (Bildquelle: Wikipedia, gemeinfrei)

Georg Heym wurde am 30.10.1887 in Hirschberg (Schlesien) geboren. Seine juristische Laufbahn, zu der er sich durch seinen Vater, den Staatsanwalt (später Reichsmilitärstaatsanwalt) Hermann Heym (1850-1920), verpflichtet fühlte und auch die damit verbundenen häufigen Wohnortwechsel, hielten ihn nicht davon ab, posthum einer der bedeutendsten Lyriker des literarischen Expressionismus zu werden. Spätestens seit Heym zwölf Jahre alt war, versuchte er sich an der Lyrik. Als 1909/1910 „Der Neue Club“ gegründet wurde, eine Vereinigung von Künstlern und Studenten, trug Heym seine Texte öffentlich vor und wurde damit ein Sprachrohr der literarischen Subkultur des frühen Expressionismus. Leitmotive der jungen Dichter, Künstler und Literaten dieser Zeit waren zum Beispiel der Aufbruch aus dem stagnierten und schwermütigen Lebensgefühl des wilhelminischen Spießbürgertums oder die Hilflosig- und Orientierungslosigkeit, die die Verstädterung und Technisierung sowie die Menschenmassen in den Ballungsräumen bei den jungen Bürgern hinterließen.

Im Jahr 1911 kam es zu einem Vertragsabschluss zwischen Heym und dem Verleger Ernst Rohwolt für einen Novellenband, den Heym jedoch nicht vollenden konnte, da er bereits 1912 bei dem vergeblichen Versuch, seinen Freund Ernst Balcke vor dem Ertrinken zu retten, starb.

Seine Stellung in der deutschen Literaturgeschichte verdankt Heym an erster Stelle der Bildgewalt, in die er seine lyrischen Werke zu kleiden wusste.