Der Engel

In der Kindheit frühen Tagen
Hört ich oft von Engeln sagen,
Die des Himmels hehre Wonne
Tauschen mit der Erdensonne,

Daß, wo bang ein Herz in Sorgen
Schmachtet vor der Welt verborgen,
Daß, wo still es will verbluten,
Und vergehn in Tränenfluten,

Daß, wo brünstig sein Gebet
Einzig um Erlösung fleht,
Da der Engel niederschwebt,
Und es sanft gen Himmel hebt.

Ja, es stieg auch mir ein Engel nieder,
Und auf leuchtendem Gefieder
Führt er, ferne jedem Schmerz,
Meinen Geist nun himmelwärts!

Mathilde Wesendonck

Das lyrische Ich des Gedichts „Der Engel“, geschrieben von Mathilde Wesendonck, hörte schon in Kindertagen Geschichten von Engeln. Das Gedicht ist in vier Strophen mit je vier Versen im Paarreim gehalten. In der ersten Strophe erinnert sich das lyrische Ich daran, dass es als Kind Sagen von Engeln hörte, die ein Leben im Himmel gegen das Leben auf der Erde tauschten. In der zweiten Strophe und der ersten Hälfte der dritten weist es darauf hin, wann die Erscheinung des Engels geschieht, nämlich wenn „ein Herz“ (V.1) verzweifelt (wo still es will verbluten, V.7), zutiefst traurig (vergehn in Tränenfluten, V.8) ist, dann, so steht es in der zweiten Hälfte der dritten Strophe geschrieben, käme ein Engel, um dieses Herz „gen Himmel“ (V.12) zu heben.

In der letzten Strophe beschreibt das Gedicht ein Bild von einem Engel, der niedersteigt und es auf leuchtendem Gefieder „himmelwärts“, trägt. Schmerz spürte das lyrische Ich bei dieser höheren Führung nicht („ferne jedem Schmerz“, V.15).

Fünf Gedichte von Mathilde Wesendonck, vertont von Richard Wagner
Fünf Gedichte von Mathilde Wesendonck, vertont von Richard Wagner

Engel sind in der Mythologie im Gegensatz zu Dämonen im Allgemeinen gute Wesen. Sie symbolisieren den Schutz des Göttlichen, sind Geistwesen, die das Überirdische vermitteln können.

Bezüge zu Engeln rufen vor allem religiöse Interpretationen hervor, schließlich sind sie eben aus diesem Kontext entstanden. In vielen Religionen, etwa im Christentum, dem Judentum, dem Islam und dem Buddhismus gibt es Engelwesen. In der modernen Zeit sind Engel außerdem als Lichtwesen in der Esoterik zu finden.

Die Metaphorik des Gedichts „Der Engel“ lässt neben der religiösen auch eine ganz weltliche Interpretationsmöglichkeit zu, die möglicherweise auch zum Hintergrund seiner Entstehung passt. So kann die Erde die Seele, bzw. die emotionale Innenwelt symbolisieren, der Himmel dagegen die Vernunft des Menschen. Engel wären demnach Menschen, die sich nicht von Emotionalität beherrschen lassen, sondern Entscheidungen auf der Grundlage der Vernunft treffen. Denn Sorgen, Liebeskummer und andere innere Schmerzen sind objektiv gesehen meistens nur halb so schmerzhaft, wie sie den Betroffenen erscheinen. Dass der Engel das lyrische Ich gen Himmel führt, bedeutet somit, dass er es auffordert, die Sorge und den Schmerz nicht emotional zu tragen, sondern objektiv zu betrachten.

Mathilde Wesendonck, Gemälde von Karl Ferdinand Sohn, 1850, StadtMuseum Bonn (als Leihgabe im LVR Rheinisches Landesmuseum Bonn)
Mathilde Wesendonck, Gemälde von Karl Ferdinand Sohn, 1850, StadtMuseum Bonn (als Leihgabe im LVR Rheinisches Landesmuseum Bonn)

Mathilde Wesendonck, geboren als Agnes Luckemeyer am 23.12.1828 in Elberfeld (heute Wuppertal), wächst sowohl in Elberfeld als auch in Düsseldorf auf. Als Erwachsene heiratet sie den steinreichen Kaufmann Otto Wesendonck und nimmt, wohl aus Liebe zu ihm, den Vornamen seiner ersten Frau an, die bereits früh verstorben war. 1850 zieht das Ehepaar nach Zürich, wo sie zwei Jahre später den Komponisten Richard Wagner kennenlernen. Wagner hatte als Unterstützer des 1849er Aufstandes aus Dresden fliehen müssen. Das Ehepaar Wesendonck unterstützt ihn finanziell und bietet ihm Obdach in seinem Gartenhaus, nicht unweit der Villa Wesendock, wo Wagner den „Ring des Nibelungen“ komponiert und Mathilde gerne in ihren musikalisch-literarischen Salon einlädt. Als Wagners Frau jedoch aufdeckt, dass Mathilde für ihren Mann mehr als eine Muse ist, bricht der Kontakt zwischen Wagner und den Wesendoncks ab. Inspiriert durch die tiefe und innige Freundschaft mit Mathilde hat Wagner die Oper „Tristan und Isolde“ komponiert.

Im November 1857 schreibt Mathilde das Gedicht „Der Engel“. Wagner komponierte es noch im selben Monat und machte das Gedicht zu einem Lied. „Der Engel“ ist das erste von fünf Gedichten aus Mathildes Feder, die von Wagner vertont wurden und heute als der Liederzyklus „Wesendonck-Lieder“ bekannt sind.

Sie stirbt am 31.08.1902 im Österreichischen Traunblick. Große Berühmtheit erlangte ihr Gesamtwerk, zu dem unter anderem Dramen, Kinderbücher, Legenden und Sagen gehören, bis heute nicht und auch ihr Leben erzählt sich mehr über die Menschen, mit denen sie sich umgab, als über sich selbst.

Bildquelle: Wikipedia, gemeinfrei