Die Sonne

von Hugo Ball

Zwischen meinen Augenlidern fährt ein Kinderwagen.
Zwischen meinen Augenlidern geht ein Mann mit einem Pudel.
Eine Baumgruppe wird zum Schlangenbündel und zischt in den Himmel.
Ein Stein hält eine Rede. Bäume in Grünbrand. Fliehende Inseln.
Schwanken und Muschelgeklingel und Fischkopf wie auf dem Meeresboden.

Meine Beine strecken sich aus bis zum Horizont. Eine Hofkutsche knackt
Drüber weg. Meine Stiefel ragen am Horizont empor wie die Türme einer
Versinkenden Stadt. Ich bin der Riese Goliath. Ich verdaue Ziegenkäse.
Ich bin ein Mammuthkälbchen. Grüne Grasigel schnüffeln an mir.
Gras spannt grüne Säbel und Brücken und Regenbögen über meinen Bauch.

Meine Ohren sind rosa Riesenmuscheln, ganz offen. Mein Körper schwillt an
Von Geräuschen, die sich gefangen haben darin.
Ich höre das Meckern
Des großen Pan. Ich höre die zinnoberrote Musik der Sonne. Sie steht
Links oben. Zinnoberrot sprühen die Fetzen hinaus in die Weltnacht.
Wenn sie herunterfällt, zerquetscht sie die Stadt und die Kirchtürme
Und alle Vorgärten voll Krokus und Hyazinthen, und wird einen Schall geben
Wie Blech von Kindertrompeten.

Aber es ist in der Luft ein Gegeneinanderwehen von Purpur und Eigelb
Und Flaschengrün: Schaukeln, die eine orangene Faust festhält an langen Fäden,
Und ist ein Singen von Vogelhälsen, die über die Zweige hüpfen.
Ein sehr zartes Gestänge von Kinderfahnen.

Morgen wird man die Sonne auf einen großrädrigen Wagen laden
Und in die Kunsthandlung Caspari fahren. Ein vielköpfiger Neger
Mit wulstigem Nacken, Blähnase und breitem Schritt wird fünfzig weiß-
Juckende Esel halten, die vor den Wagen gespannt sind beim Pyramidenbau.

Eine Menge blutbunten Volks wird sich stauen:
Kindsbetterinnen und Ammen,
Kranke im Fahrstuhl, ein stelzender Kranich, zwei Veitstänzerinnen,
Ein Herr mit einer Ripsschleifenkrawatte und ein rotduftender Schutzmann.

Ich kann mich nicht halten: Ich bin voller Seligkeit. Die Fensterkreuze
Zerplatzen. Ein Kinderfräulein hängt bis zum Nabel aus einem Fenster heraus.
Ich kann mir nicht helfen: Die Dome zerplatzen mit Orgelfugen. Ich will
Eine neue Sonne schaffen. Ich will zwei gegeneinanderschlagen
Wie Zymbeln, und meiner Dame die Hand hinreichen. Wir werden entschweben
In einer violetten Sänfte über die Dächer euerer
Hellgelben Stadt wie Lampenschirme aus Seidenpapier im Zugwind.

Hugo Balls Gedicht „Die Sonne“ beschreibt in sieben Strophen einen phantastischen Traum. Die Strophen weisen dabei weder ein regelmäßiges Reimschema, noch eine kontinuierliche Zahl von Versen auf. Die Strophen bestehen aus Sätzen und so sind Enjambements das zentrale Charakteristikum des formalen Aufbaus des Gedichts.
In der ersten Strophe wiederholt sich der Versbeginn „Zwischen meinen Augenlidern…“ und verdeutlicht, dass die nachfolgenden Ereignisse einen Traum beschreiben. Es ist ein irreales, phantastisches Geschehen, welches das lyrische Ich umgibt. Personifikationen, wie „Ein Stein hält eine Rede“ (I, 4), „Gras spannt“ (II, 5) und Neologismen („weiß-juckend“ (V, 3), „Ripsschleifenkrawatte“ (VI, 4)) bestimmen das Gedicht. In diesem Traum stehen „Bäume in Grünband“ (I, 4), Musik ist zinoberrot (III, 4) und „Ein vielköpfiger Neger / Mit wulstigem Nacken, Blähnase und breitem Schritt wird fünfzig weiß- / Juckende Esel halten“ (V, 2-4). Ergänzt wird dieses Schauspiel durch die zahlreichen Verweise auf Farben und Figuren aus der griechischen Mythologie (III, 4) und altestamentlichen Texten (II, 3). Während in den ersten beiden Strophen Grün dominiert (I, 4; II, 5), taucht Hugo Ball die dritte Strophe in ein sattes Zinoberrot (III, 4; III, 5). In der darauffolgenden Strophe mischen sich „Purpur und Eigelb / Und Flaschengrün“ (IV, 1-2) mit Orange, bevor in Strophe sechs das Volk als „blutbunt“ (VI, 1) beschrieben wird.
Inmitten dieser Kulisse findet sich das lyrische Ich, es fügt sich in die Traumwelt ein (II). Neben den zuvor positiv beschriebenen Naturelementen sticht die Sonne bedrohlich hervor. Sie droht herunterzufallen und die Stadt zu zerquetschen (III, 6-7). Die Sonne wird, so beschreibt es die fünfte Strophe, auf einen Wagen geladen und in eine Kunsthandlung gebracht. Dass dazu 50 Esel erforderlich sind, unterstreicht, um welch großes Unterfangen es sich handelt. Dieses Geschenen wird alle Menschen in Staunen versetzen (VI) und überwältigt das lyrische Ich, das eine neue Sonne schaffen will (VII, 3-4). Dazu sollen zwei Sonnen gegeneinander geschlagen werden wie Zymbeln (Altes Musikinstrument ähnlich Becken) (VII, 4-5) und das lyrische Ich und seine Frau werden über die Dächer fortschweben (VII, 5-7).

HugoBall-1926
Hugo Ball 1926 (Bildquelle: http://www.zeno.org/Literatur/M/Ball,+Hugo)

Hugo Ball wird am 22. Februar 1886 in Pirmasens geboren. Er wächst bei seinen Eltern Karl Ball und Josephina Arnold auf. Hugo besucht zunächst die Volksschule und das Pirmasenser Gymnasium. Danach beginnt er eine kaufmännische Lehre in einer Lederhandlung, welch er aber aus gesundheitlichen Gründen abbrechen muss. Ab 1905 ist er Schüler am Königlichen Humanistischen Gymnasium Zweibrücken und beginnt im Jahr darauf sein Studium in München. 1907 wechselt er nach Heidelberg und kehrt im darauffolgenden Jahr nach München zurück, wo er sein Studium abbricht.
Er widmet sich dem Schauspiel, besucht 1910 die Schauspielschule des Deutschen Theaters in Berlin und wechselt im Anschluss daran an das Münchner Lustspielhaus. Zu dieser Zeit erscheint mit dem Drama „Die Nase des Michelangelo“ sein erstes Werk. Weitere literarische Projetke kann Hugo Ball nicht verwirklichen, das der Erste Weltkrieg ausbricht. Kriegsbedingt wird das Münchner Lustspielhaus geschlossen und Ball geht nach Berlin zurück, wo er bei der Zeitschrift „Zeit im Bild“ als Redakteur angestellt wird. Dort bleibt er nicht lange und emigriert mit seiner späteren Frau Emmy Hennings in die Schweiz. Beide finden ein Engagement beim Varieté-Ensemble „Maxim“ und gründen selbst das Ensemble „Arabella“. 1916 beginnt Ball seinen Plan eines eigenen Kabaretts zu verwirklichen, welches im darauffolgenden Jahr unter dem Namen „Künstlerkneipe Voltaire“ eröffnet. In diesem Jahr ist auch erstmals das Wort „Dada“ dokumentiert: in einem Programmheft Hugo Balls. Am 23.06.1916 trägt Hugo Ball zum ersten Mal ein Lautgedicht in seinem Kabarett vor. Der Begriff „Dada“ dient als Abgrenzung zu geschlossenen Werken, zur Bürgerlichkeit und klassischen Weltbildern. Es handelt sich um eine Protesthaltung und eine Form der Antikunst. Diese Haltung drückt sich in den Werken des Dadaismus durch Brüche und Widersrüch aus. Sätze und Wörter werden dekonstruiert und neu montiert. Die bekanntesten dadaistischen Werke sind Laut- und Buchstabengedichte. Eines der berühmtesten ist Hugo Balls „Karawane“.
jolifanto bambla ô falli bambla
grossiga m’pfa habla horem
égiga goramen
higo bloiko russula huju
hollaka hollala
anlogo bung
blago bung
blago bung
bosso fataka
ü üü ü
schampa wulla wussa ólobo
hej tatta gôrem
eschige zunbada
wulubu ssubudu uluw ssubudu
tumba ba- umf
kusagauma
ba – umf
Hugo Ball zählt mit seinen dadaistischen und expressionistischen Dichtungen zur Avantgarde des 20. Jahrhunderts. In der Zeit von 1917-1920 ist Ball erneut journalistisch tätig und arbeitet für die „Freie Zeitung“ in Bern. Als diese ihr Ersheinen einstellt, kehrt Ball mit seiner Frau und Stieftochter Annemarie nach Deutschland zurück. In Deutschland findet er sich nur schwer zurecht und kehrt noch im selben Jahr in die Schweiz zurück.
Ball vertieft seine literarischen Arbeiten und lernt Herman Hesse kennen, zu dem eine feste Freundschaft entsteht. Er überarbeite Werke und publiziert neue, darunter eine Biographie über Hermann Hesse. Hugo Ball erkrankt an Magenkrebs und stirbt am 14. September 1927 in S’ Abbondio.