Eines jener Lieder …

Schließ die Augen, leg dich nieder
und schlaf ruhig ein
ich sing eines jener Lieder
die sich selbst bereun
ein Lied, dem man nicht glauben muss
ein Lied, das man nicht verstehen muss
ein Lied, das keinem böse ist
wenn man es vergißt.

Tränen trocknen immer wieder
sobald man sich besinnt
ich sing eines jener Lieder
die vergeblich sind
ein Lied, das nichts mehr ändern kann
ein Lied, das nichts verhindern kann
ein Lied, das nur die Zeit vertreibt
die noch übrigbleibt.

Zu sehn, wie etwas stirbt tut weh
auch wenn es zu erwarten war
auch Blumen, die ich welken seh
tun weh – jedes Jahr …

Müde Augen, müde Glieder
ein Rest von Zärtlichkeit
ich sing eines jener Lieder
die sich irren in der Zeit
ein Lied von dem, was nicht mehr ist
das dir sagen sollte: ich liebe dich
und doch nur sagen kann: ich hab dich geliebt
weil es meine Liebe nicht mehr gibt.

Zu sehn, wie etwas stirbt tut weh
auch wenn es zu erwarten war
auch Blätter, die ich fallen seh
tun weh – jedes Jahr …

Jörn Pfennig


In den ersten zwei Strophen des Gedichts „Eines jener Lieder …“ von Jörn Pfennig erweckt das lyrische Ich den Eindruck ein Schlaflied zu singen. Es fordert dazu auf,  die Augen zu schließen und einzuschlafen. Anschließend gibt es Aufschluss über das Lied, das es singt. Es ist ein Lied, das sich selbst bereut, das man nicht glauben oder verstehen muss, das man sogar getrost vergessen kann. Weiter ist es ein Lied, das vergeblich ist, das nichts ändert oder verhindert, sondern „nur“ die übrige Zeit vertreibt. Diese Charakterisierung lässt das Lied geradezu sinnlos erscheinen.
In der dritten Strophe wird zunächst deutlich, dass das Einschlafen nicht nur einen Schlaf zur Folge haben wird, sondern auch ein Sterben („Zu sehen, wie etwas stirbt tut weh“, V. 17), wobei sich das lyrische Ich zunächst auf das Welken einer Blume bezieht „auch Blumen, die ich welken seh“ (V.19). In der vierten Strophe erfahren wir außerdem, warum das Lied vermeintlich sinnlos ist. Es ist ein Lied „von dem, was nicht mehr ist“ (V.25), es handelt also von der Vergangenheit, genauer gesagt von einer vergangenen Liebe („weil es meine Liebe nicht mehr gibt“, V. 27). Das Vergehen der Liebe wird somit durch den Bezug zu der welkenden Blume und dem „sehn, wie etwas stirbt“ indirekt mit einem ruhigen Akt des Sterbens gleichgesetzt.

In der dritten und fünften Strophe reflektiert das lyrische Ich den Verlust durch das Sterben dieser Liebe. Die beiden Strophen unterscheiden sich von den anderen drei. Sie umfassen jeweils vier Verse, während die anderen drei Strophen jeweils acht Verse umfassen. Zudem sind sie inhaltlich sehr ähnlich. Es ist schmerzhaft für das lyrische Ich, etwas sterben zu sehen, wenngleich das Dahinscheiden zu erwarten war. Dass das Sterben mit dem Welken einer Blume und dem Fallen von Blättern verglichen wird („auch Blätter, die ich fallen seh tun weh“, V.30f), verleiht dem Vergangenen wiederum einen Hauch von naturgebundener Ewigkeit, denn das gefallene Blatt gelangt so wieder in den Kreislauf der Natur.

Bei „Eines jener Lieder  …“ handelt es sich nicht nur um ein Gedicht, sondern tatsächlich auch um ein von Jörn Pfennig für das Kallophonia Quintett vertontes Lied, das hier gehört werden kann:


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Jörn Pfennig wurde im Jahr 1944 geboren, seine Jugend verbrachte er in Tübingen. Als junger Erwachsener studierte er Theaterwissenschaft in München. In den folgenden Jahren war er dort und anderswo in diversen Kreativ-Bereichen tätig: Texte und Kompositionen, öffentliche Auftritte und Schallplattenproduktionen als Liedermacher, Autor und Moderator bei verschiedenen Rundfunk- und Fernsehanstalten, Entwickler von Erwachsenen-Spielen sowie als Filmemacher. Auch in der Musik fühlt Jörn Pfennig sich heimisch, begleiten ihn doch immer schon die Klarinette und das Saxofon bei der Jazzmusik.

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Mit dem ersten Buch GRUNDLOS ZÄRTLICH (1979) wandelt sich Pfennig vom Texter zum Dichter. Noch unversehener ist für ihn laut eigener Aussage, dass das Buch ein Bestseller wird. Weitere Bücher in Lyrik und Prosa sind vorgesehen. Parallel dazu unterhält Pfennig verschiedene musikalische Projekte sowie Kombinationen von Musik und Poesie u.a. mit dem Jazz & Lyrik-Trio WAHNDREIECK.  Pfennig lebt heute in München. (www.joernpfennig.de)