ich erkläre den plastikmüll der meere

Von Arne Rautenberg

ich erkläre den plastikmüll der meere
zur kunst
und also danke ich den gezeiten
ich danke der wellenbewegung
ich danke dem uv-licht
für die zersetzung
die vervielfältigung
meiner kunst
ich danke verschiedenen meeresbewohnern
ich danke dem plankton
für die einverleibung meiner kunst
dafür dass meine kunst in die nahrungskette gelangt
jeder an ihr partizipieren kann
ich danke den waschmaschinen
dass sie fasern aus fleece
und anderen synthetischen kleidungsstücken
ins abwasser und damit in meine kunst einbringen
ich danke den strömungen
den großen meereswirbeln
besonders dem nordpazifikwirbel
für die strudelnde ballung meiner kunst
dafür dass sie millionenfach pro quadratkilometer
meer vorhanden ist dass insgesamt
hundert millionen tonnen meiner kunst
in allen meeren zirkulieren ich danke
dafür dass ich ein künstler bin der
alle kontinente umspielen darf


Das Gedicht ich erkläre den plastikmüll der meere von Arne Rautenberg handelt von den Ausmaßen der Meeresverpestung durch den Müll unserer modernen Gesellschaften. Durch die Entsorgung von Müll in den Ozeanen sind mittlerweile richtige Müllinseln entstanden. Das lyrische Ich erklärt diesen Müll zu seiner Kunst, es dankt den „wellen…“ (V.4) und dem „licht“ (V.5) für die Zersetzung des Plastiks und den „meeresbewohnern“ (V.11) dafür, dass sie sich dieses zersetzte Plastik einverleiben womit es schließlich auch in die „nahrungskette“ (V.12) von uns Menschen gelangt. Denn wenn wir diese „meeresbewohner“, also Fisch oder Meeresfrüchte essen, gelangt das Plastik schließlich in den menschlichen Organismus.

Diese Erklärung des Mülls zur eigenen Kunst kann nahezu als ein religiöser Akt gesehen werden: das lyrische Ich nimmt den Müll der Welt in seine Verantwortung und befreit damit den Rest der Abfall-Gesellschaften von der Plage der Umweltverschmutzung, sozusagen von ihren Sünden, indem es sie zur Kunst deklariert. Auf der anderen Seite macht es aber auch verstärkt auf die Auswirkungen aufmerksam. Dabei ist die Umsetzung so genial wie fürchterlich. Es liegt eine eigenartige Komik darin, etwas unwiderruflich Zerstörerisches wie eine Meerverschmutzung durch Plastikmüll als Kunst zu deklarieren, noch dazu als die eigene. Und das lyrische Ich ist merklich stolz auf seine „Kunst“: „ich danke dafür dass ich ein künstler bin der alle kontinente umspielen darf“ (V. 25-27).

In dieser Gegensätzlichkeit liegt die Genialität des Gedichts. Es wird es zu einem Gedicht vollendeter Ironie. Einer Ironie im großen Stil, denn nicht nur was das lyrische Ich sagt, sondern auch wie es das sagt, meint das Gegenteil. Die Gefahr, also die Konsequenz für die Erde und ihre Bewohner, die von dem „plastikmüll“ ausgeht, wird in diesem Gedicht nicht eindeutig benannt. Statt dessen beansprucht das lyrische Ich maßlos etwas Übergroßes für sich, indem es mit einem kindlich naiven Ton große Dankbarkeit durch die Wiederholungen der Wörter „ich danke“ ausdrückt. Dass es sich bei dem Gegenstand des Gedichts um Müll handelt macht es so tragisch. Wohingegen die Erhebung, die durch die Deklaration des Mülls zur Kunst vermittelt wird, unweigerlich zur Freude verleitet.

Wie es in der modernen und zeitgenössischen Lyrik häufig geschieht, wird auch das Gedicht ich erkläre den plastikmüll der erde den Rechtschreibregeln enthoben, vielleicht weil solch weltliche Regeln in der fantastischen Welt der Lyrik keine Rolle spielen müssen.

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Erschienen ist das Gedicht in Arne Rautenbergs Lyrikband „seltene erden“. Das Buch ist 2014 in der Edition Voss im Horlemann Verlag in Berlin erschienen.

Alltägliche Eindrücke gehen hier Hand in Hand mit poetischen Versen. Ausdrucksvolle Zwei- und Dreizeiler motivieren Gedankengänge, die ebenso tiefgründig wie komisch sind. Viele Gedichte bilden ihre Aussage nicht nur durch Wörter und Sätze, sondern auch visuell durch Kreise, Wellen und schwingende Formen. Hier arbeitet der Dichter einen Kontrast zur normgetreuen kantigen Anordnung untereinander stehender Verse heraus durch die verspielte Wirkung der umfließenden Formen. Neben dieser Besonderheit auf formaler Ebene ist die Natur ein zentrales Thema der Lyrik Rautenbergs. Dabei handelt es sich bei dieser „Naturlyrik“ nicht um schwärmerische Spaziergänge durch Idyllen, vielmehr findet die Natur mit ihrem Licht, ihren Farben, Blättern, Pflanzen, Blumen und Wettern eine pragmatische Beachtung. Die Gedichte in „seltene erden“ sind nicht nur für die Avantgarde und auch keine gefühlvolle Wortspielerei. Rautenberg fasst für jeden sichtbare Zustände und Tatsachen in eine einfache Sprache und leitet daraus vielschichtige Schlüsse und Ideen ab.

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Arne Rautenberg (Foto: Birgit Rautenberg)

Arne Rautenberg wird 1967 in Kiel geboren. Bereits in jungen Jahren schreibt er Gedichte. Den Zugang zur Kunst findet Rautenberg durch einen Schwarz-Weiß-Fernseher, den er als Junge erwirbt und auf dem Gepäckträger seines Fahrrads nach Hause transportiert. Seine Eltern sind damit ganz und gar nicht einverstanden. Doch lässt es Rautenberg sich nicht nehmen, einen Film anzuschauen: „Vincent van Gogh – Ein Leben in Leidenschaft“ (1956). Den Fernseher bringt er am nächsten Tag zurück, die Kunst jedoch hat ihn gefangen und zu einem passionierten Künstler gemacht.
Mit dem Studium der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Volkskunde und seiner Karriere als Künstler und Schriftsteller verschreibt sich Rautenberg ganz der Kunst und Literatur. Auch als Kulturjournalist und Lehrbeauftragter an der Muthesius-Kunsthochschule ist er in seiner Heimatstadt Kiel tätig. Seine Gedichte sind in Anthologien, eigenen Veröffentlichungen und Schulbüchern zu lesen. Außerdem verfasst er Romane, Kurzgeschichten und Essays, die zum Teil auf seiner Internetseite (www.arnerautenberg.de) gelesen werden können.

Ein Gespräch mit dem Dichter und Künstler gibt es hier.