Auswanderer

Sie nehmen ihre Kinder an der Hand
Und ziehen fort; es duldet sie kein Land.

Grenzwächter sind auf ihren Weg gestellt,
Wie wenn ein Hund am Tor die Wache hält.

Sind überm Meer noch ein paar Ackerbreit,
Worauf nicht Gras noch Futterkorn gedeiht?

Sanddünen, die kein Sämann noch bewarf,
Dass dort ein Bettelvolk verhungern darf?

Der Bauch der Schiffe nimmt sie endlich auf,
Zum Ballast hingeworfen, Hauf um Hauf.

Und setzt sie an den fernen Küsten aus
Wie Findlingskinder vor ein fremdes Haus.

Hedwig Lachmann


Das Gedicht „Auswanderer“ setzt sich aus sechs Strophen mit je zwei Versen zusammen. Ausnahmslos im Paarreim mit einem fünf-hebigen Jambus verfasst, weist das Gedicht eine gleichmäßige Struktur auf.

Die erste Strophe führt direkt in die bedrückende Thematik ein. Nicht näher definierte Heimatlose müssen mit ihren Kindern ihren Wohnort verlassen, denn „es duldet sie kein Land“ (V. 2).

Die „Grenzwächter“ (V. 3), die ihnen auf ihrer Flucht den Weg versperren, beschreibt Lachmann als Wachhunde. Der Vergleich vermittelt das Gefühl von Angst und körperlicher Bedrohung.

Die Frage in der dritten Strophe äußert die Hoffnungen der Auswanderer. Ihr Ziel ist ein Land auf der anderen Seite des Meeres, das „noch ein paar Ackerbreit“ (V. 5) bereithalten möge, um sich dort niederzulassen. Dafür nehmen die Ungeduldeten selbst unfruchtbaren Boden in Kauf, auf dem „nicht Gras noch Futterkorn gedeiht“ (V. 6).

Auch die vierte Strophe fährt mit einer Frage fort, die den Ernst der Lage näher einordnet. Denn nun beschreibt Lachmann die Sorgen des „Bettelvolk[es]“ (V. 8) vor dem Hungertod, der ihnen unweigerlich droht.

Doch sie haben Glück: „Der Bauch der Schiffe nimmt sie endlich auf“ (V. 9). Dennoch sind sie nur dem restlichen „Ballast“ (V. 10) gleich. Die Anapher „Hauf um Hauf“ (V. 10) verstärkt das Gefühl der Enge, in der die Auswanderer in den Laderäumen der Schiffe aneinandergedrängt verharren müssen.

Schließlich werden sie „an den fernen Küsten“ (V. 11) ausgesetzt, „[w]ie Findlingskinder vor ein fremdes Haus“ (V. 12). Der Vergleich offenbart die Hilflosigkeit der Geflüchteten. Sie sind nun mittellos, ohne Heimat und auf die Barmherzigkeit Fremder angewiesen.

Obgleich das Gedicht weder die Personengruppe beschreibt, die hier gezwungen ist, in der Ferne eine neue Heimat zu suchen, noch das Ziel ihrer Reise nennt, dürfte die Migration der Juden nach Amerika gemeint sein. Zum Ende des 19. Jahrhunderts sieht sich die jüdische Bevölkerung besonders in Osteuropa einer Welle des Antisemitismus ausgesetzt. Der beginnende Erste Weltkrieg, verbunden mit Hunger, Vertreibung und Tod, bietet für viele schließlich weitere Gründe, Europa endgültig zu verlassen und auf dem amerikanischen Kontinent eine Heimat zu suchen. Nach mehrtägigen Schiffsreisen auf engstem Raum in den USA angekommen, müssen die verarmten und hungernden Ausgewanderten von vorne beginnen und stoßen auch dort vielerorts schnell auf Abneigung und Repressionen seitens der Bevölkerung und der Regierung.

Hedwig_Lachmann_-_1865-1918
Hedwig Lachmann (Bildquelle: Wikipedia, gemeinfrei)

Das Gedicht „Auswanderer“ wurde 1919 postum in einem Sammelband veröffentlicht. Seine Entstehung fällt somit in eine Hochphase der jüdischen Migration nach Amerika, die Hedwig Lachmann, selbst Jüdin, unweigerlich in ihrem Umfeld beobachtet haben muss.
Lachmann kommt 1865 in der Provinz Pommern zur Welt. Die Leiden des Krieges erfährt die Schriftstellerin, Übersetzerin und Dichterin am eigenen Leib. Hunger und eine schlechte medizinische Versorgung sind stetige Begleitung während der Kriegsjahre. 1918 stirbt Lachmann an einer Lungenentzündung in Krumbach.