Einen Sommer lang

Zwischen Roggenfeld und Hecken
Führt ein schmaler Gang,
Süßes, seliges Verstecken
Einen Sommer lang.

Wenn wir uns von ferne sehen
Zögert sie den Schritt,
Rupft ein Hälmchen sich im Gehen,
Nimmt ein Blättchen mit.

Hat mit Ähren sich das Mieder
Unschuldig geschmückt,
Sich den Hut verlegen nieder
In die Stirn gerückt.

Finster kommt sie langsam näher,
Färbt sich rot wie Mohn,
Doch ich bin ein feiner Späher,
Kenn die Schelmin schon.

Noch ein Blick in Weg und Weite,
Ruhig liegt die Welt,
Und es hat an ihre Seite
Mich der Sturm gesellt.

Zwischen Roggenfeld und Hecken
Führt ein schmaler Gang,
süßes, seliges Verstecken
Einen Sommer lang.

Detlev von Liliencron, 1844-1909

Das Gedicht „Einen Sommer lang“ von Detlev von Liliencron ist in sechs Strophen mit je vier Versen gegliedert und weist einen reinen Kreuzreim (a b a b) auf, der dem Gedicht eine gleichmäßige Melodie verleiht. Die erste und letzte Strophe sind identisch und geben dem Gedicht einen Rahmen, zeigen auf, wo sich die Handlung abspielt: „Zwischen Roggenfeld und Hecken (…)“ (V.1, Z.1 und V.6, Z. 21). Eine junge Frau und ein junger Mann begegnen sich einen Sommer lang immer wieder auf dem „schmalen Gang“ (V. 2, Z.2 und V.6, Z. 22) zwischen den Feldern und spielen eine Art Versteckspiel miteinander. („Süßes, seliges Verstecken“). Sie wirkt schüchtern, wenn sie ihn sieht und zupft verlegen an einem Grashalm (V.2). Ihr Kleid hat sie mit Ähren geschmückt. Den Hut hat sie sich tief in die Stirn gezogen, um ihre Blicke und ihr Gesicht zu verbergen (V. 3) Durch das äußere Erscheinungsbild wirkt sie unschuldig und brav, wirft ihm jedoch immer wieder Blicke zu. Als sich die beiden näher entgegen kommen, zeigt sie einen finsteren Blick, um vielleicht unnahbar zu wirken, jedoch errötet ihr Gesicht „wie Mohn“ (V. 4, Z. 14). Ihr Gegenüber beobachtet dies und hat die „Schelmin“ (V. 4, Z. 16) durchschaut, da sie ihn schon aus der Ferne beobachtet hat. In der fünften Strophe genießen die beiden den gemeinsamen, friedlichen Moment („Ruhig liegt die Welt“) bis sich ihre Wege wieder trennen werden. Der Sturm, welcher sich mit ihr an seine Seite gesellt hat (V.5, Z. 19-20), könnte für den Sturm der Gefühle stehen, der in beiden tobt.

Das Gedicht spiegelt eine ländliche Romantik wieder, in der das Mädchen als schüchtern, brav und unschuldig auftritt und gleich als „Schelmin“ bezeichnet wird, weil sie den Jungen beobachtet. Der Junge tritt als lyrisches Ich auf und beschreibt das Geschehnis.

Liliepor
Detlev von Liliencron (Bildquelle: Wikipedia, gemeinfrei)

Friedrich Adolf Axel Freiherr von Liliencron wurde am 3. Juni 1844 in Kiel. Sein Vater war dänischer Zollbeamter. Die Ausbildung am Gymnasium brach er ab und ging daraufhin zur Realschule. Nach seinem Eintritt in die Berliner Kadettenschule wurde er Kavallerieoffizier in der preußischen Armee und erhielt für seinen Einsatz im Preußisch-Deutschen Krieg und im Deutsch-Französischen Krieg mehrfache Auszeichnungen. Sein großes Laster war das Glücksspiel, aus dem Schulden erwachsen, wegen der er 1875 den Dienst quittieren musste.

Von 1875 bis 1877 arbeitete er als Klavier- und Sprachlehrer in Amerika, 1877 kehrte er nach Deutschland zurück, arbeitete in der preußischen Verwaltung und heiratete die Adelige Helene von Bodenhausen, 1882 wurde er zum Hardesvogt (=Landrat) auf der nordfriesischen Insel Pellworm. Da Liliencron stark verschuldet war, musste er 1885 aus dem Staatsdienst ausscheiden. Die Scheidung von Helena von Bodenhausen folgte im selben Jahr. Ab 1885 lebte er als freier Schriftsteller und heiratete 1887 die Gastwirtstochter Augusta Brandt. In dieser Zeit knüpfte er Kontakte zu verschiedenen literarischen Kreisen und lernte u. a. Otto Julius Bierbaum und Gustav Falke kennen. Einige seiner Werke wurden veröffentlicht. 1892 folgte seine zweite Scheidung.

Liliencron versuchte,mit Vortragsreisen Geld zu verdienen, um seine Schulden abzuzahlen. 1899 heiratete er die Bauerntochter Anna Micheel. In seinen letzten Jahren lebte er in Alt-Rahlstedt und erhielt ein Ehrengeld von Kaiser Wilhelm II. Seine Karriere als Schriftsteller erlebte in dieser Zeit ihren Höhepunkt. Zu seinem 65. Geburtstag erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Kiel. Nachdem er zu den Schlachtfeldern der Deutsch-Französischen Kriege gereist war, erlag Liliencron am 22. Juli 1909 den Folgen einer Lungenentzündung.

Seine Werke lassen sich schwer einer bestimmten Epoche zuordnen. Spannungen zwischen Naturalismus und Neuromantik als auch die Wirkung auf spätere Expressionisten stehen für seine Gedichte. Bekannter sind jedoch seine Balladen wie beispielsweise „Trutz, blanke Hans“ (1882/1883) .