Nach Jahren

Ada Christen © Wikipedia / Rudolf Krziwanek / CC BY-SA 3.0

Wie seltsam! Unser feiger Muth
Läßt alle Schmerzen uns tragen;
O hätten wir doch den rechten Muth,
Das lösende Wort zu sagen.

Wir laufen neben einander her
Und werden müder und müder;
Ich werde blässer und kränker stets
Und du wirst kälter und rüder.

O raffe dich auf und fasse Muth
Und sei zum letzten Mal ein Mann.
Brich du mit einem Wort entzwei,
Was ich nicht länger tragen kann!
Aus: Ada Christen: Lieder einer Verlorenen
Hamburg Hoffmann & Campe 2. Auflage 1869 (S. 84)

 

Das Gedicht ist in drei Strophen unterteilt, die je vier Verse im vier-hebigen Jambus enthalten. Während die erste Strophe durch einen Kreuzreim sehr systematisch ist, wird dieser Reim in den beiden folgenden Strophen unterbrochen.

Die ersten Strophe beginnt mit einem Ausruf des Erstaunens („Wie seltsam!“, V. 1), gleich einer plötzlichen Erkenntnis. „Unser feiger Muth“ (V. 1) ist es, worüber der Ich-Erzähler sich wundert. Und auch der Leser wird durch das Oxymoron irritiert. Denn ein Enjambement unterteilt die Aussage, sodass erst der zweite Vers Aufschluss über die thematische Einordnung des Gedichtes gewährt. Von „Schmerzen“ (V. 2) ist hier die Rede, die zahlreich („alle“ V. 2) sein müssen und doch „[ge]tragen“ (V. 2) werden, da der „rechte[…] Muth“ (V. 3) fehlt, „[d]as lösende Wort zu sagen“ (V. 4). Doch noch erfährt der Leser nicht, um welches Wort es sich handeln oder wie er die beschriebene Situation einordnen muss.

Die zweite Strophe liefert etwas mehr Klarheit. Der Ich-Erzähler eröffnet der unbenannten Person ihr Anliegen. Das „neben einander her[laufen]“ (V. 5) bezieht sich gleichermaßen auch auf ein Nebeneinanderherleben, das so unerfüllend ist, dass sie „müder und müder“ (V. 6) werden. Die Anapher „müder“ (V. 6) dient nicht nur als eine Verstärkung der Aussage, sondern zugleich als Metapher, wenn sie statt einer körperlichen vor allem eine psychische Müdigkeit meint. Doch eben diese wirkt sich auch auf die Gesundheit des Ich-Erzählers aus, so wird er „blässer und kränker stets“ (V. 7). Auch auf dem Angesprochenen hat die gemeinsame Zeit ihre Spuren hinterlassen, denn er wurde „kälter und rüder“ (V. 8).

Die dritte Strophe eröffnet schließlich eine Auflösung der Situation. Sie ist eine Aufforderung an den Angesprochenen, mit allem „Muth“ (V. 9) „zum letzten Mal ein Mann“ (V. 10) zu sein und „mit einem Wort entzwei“ zu brechen (V. 11), was der Erzähler „nicht länger tragen kann“ (V. 12). So wird aus dem unbekannten Erzähler eine Erzählerin und aus der nicht näher bestimmten Eingangssituation die Trennung eines Paares. „Nach Jahren“, so zeigt es der Titel, bittet die Frau ihren Mann diese Bindung zu lösen, unter der beide leiden und die schließlich in der Entfremdung der beiden Personen gipfelte.

Ada Christen wurden 1839 in Wien geboren. Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und war früh auf sich allein gestellt, sodass sie sich in Jugendjahren einem Wandertheater anschloss. Auch die darauffolgenden Jahre waren von privaten Schicksalsschlägen geprägt, sodass sie in den 1860er Jahren mit dem Schreiben begann, um ihre Erfahrungen zu verarbeiten. 1868 veröffentlichte Christen ihren ersten Gedichtband. „Lieder einer Verlorenen“ war durch seine provokanten und sozialkritischen Inhalte ein wahrer Erfolg innerhalb der einfachen Bevölkerung.

Auch das Gedicht „Nach Jahren“, was heute wie eine normale Verarbeitung einer missglückten Beziehung erscheint, ist für die damalige Zeit ein Beweis für die von Christen angestrebte Sozialkritik. Unzufriedenheiten in einer Ehe anzusprechen, sich mehr zu erhoffen als eine rein materielle Versorgung und mit den Folgen einer gescheiterten Partnerschaft umzugehen, waren im 19. Jahrhundert weithin tabuisierte Themen. Obgleich auch hier nicht die Frau aus eigenen Stücken bereit scheint zu gehen, sondern den Mann um den ersten Schritt zur Trennung bitten muss, ist das Gedicht dennoch Beleg eines sich verändernden Verständnisses über die Rolle der Frau, der Ehe und des sozialen und familiären Zusammenlebens.

>Christen starb am 19. Mai 1901 nach langem Nervenleiden in Inzersdorf.