Ach, woanders is’ auch scheiße!

Ein Teil meiner Familie kommt aus dem Pott, der andere aus Ostwestfalen. Dazwischen liegen nur wenige Kilometer und doch scheinen die beiden Regionen Welten zu trennen. Als ich kleiner war, vermied es meine Großmutter, mich im Ruhrgebiet besuchen zu kommen. Dort sei die Luft so dreckig, sagte sie. Wenn ich Omma mit zwei m aussprach, wurde höflich auf meinen Dialekt hingewiesen und meine teils kräftige Art zu Sprechen belächelt.

Das Bild qualmender Fördertürme, ergrauter Wäsche und einer asozialen Arbeiterkultur ist auch Jahrzehnte nach der Schließung des Bergbaus prägnant. Zahlreiche Vorurteile sind in den Köpfen der Deutschen hängengeblieben. Nicht selten lebt das Ruhrgebiet noch heute von diesen Klischees, die – und das muss man sich eingestehen – manche Städte scheinbar standhaft aufrechterhalten. Doch auch die haben ihren Charme, sind auf ihre eigene Art liebenswert.

Zwar ist das Ruhrgebiet noch immer rau und die Arbeitslosenquote hoch, aber zugleich ist es auch ungemein herzlich und weltoffen. Die oft slapstickartigen Gespräche in öffentlichen Verkehrsmitteln sind ebenso unterhaltsam wie das nahezu obligatorische Bild bekittelter Rentnerinnen, die mit einem Kissen im Fenster hängend, das Geschehen in der Nachbarschaft überwachen. Allgemein habe ich von der oft für Großstädte als typisch benannten Anonymität des Ruhrgebiets bisher noch nichts bemerkt. Ob man will oder nicht: Hier werden Lebensinhalte miteinander geteilt, nicht nur in Gesprächen, sondern auch hinsichtlich des eigenen Hab und Guts. Während in meiner Straße regelmäßig Kartons mit aussortierten Kleinigkeiten und der Aufschrift „zu verschenken“ die Häuserfassaden säumen, ist es auf der Liegewiese nur ein paar Meter weiter gängig, die im Sommer bei Aldi gekauften Großpackungen Eis mit Fremden zu teilen, statt die nicht verzehrten Lebensmittel in die Tonne zu werfen.

Die Esskultur ist im Ruhrgebiet eh nochmal eine Sache für sich. Nirgends schmeckt die „Currywurstpommesmayo“ besser. Auch die gemischte Klümpchen-Tüte ist bei vielen bis zum hohen Kindheitsalter ein elementarer Teil der Ernährung, die man nach wie vor in jedem Kiosk erwerben kann. Auch grundsätzlich haben diese Buden einen hohen Stellenwert. Bis in die tiefen Nachtstunden geöffnet, bieten sie nicht nur eine Grundversorgung aus Bier, Chips und Schokolade, wenn schon alle Supermärkte geschlossen haben. Sie sind auch Treffpunkt, Kontaktbörse sowie Informations- und Kulturzentrum. Doch nicht nur dieTrinkhalle, ebenso das gesamte Ruhrgebiet ist reich an kulturellen Möglichkeiten. Durch die enge Vernetzung und gute Anbindung gelangt man innerhalb weniger Minuten – wenn man nicht in der A 40 im Stau steht – in die nächste Stadt und kann dort Museen, Theater, Lesungen, Konzerte und vielerlei mehr besuchen. Und zwar an jedem Tag der Woche, nicht nur am Wochenende wie in Ostwestfalen.

Der Ruhrpott ist vielleicht nicht das ästhetischste Fleckchen Deutschlands, aber wohl eines der authentischsten. Frank Goosen, Autor und Kabarettist aus Bochum, schrieb einmal in seinem Roman Radio Heimat über das Ruhrgebiet: „Nä, schön is dat nich. Abba meins!“ Oder wie es mein Oppa auszudrücken pflegte: „Ach, woanders is’ auch scheiße!“.

Foto: pixabay / wilhei