Theater Hagen: “Tschick” – Road Opera von Ludger Vollmer

Mit dem schon 2010 erschienenen Jugendroman „Tschick“ des Autoren Wolfgang Herrndorf († 2013), der Verfilmung durch Regisseur Fatih Akin aus dem Jahr 2016 und zahlreichen Sprechtheaterinszenierungen steht Deutschlehrern bundesweit eine hervorragende Möglichkeit zur Verfügung, sich mit ihren Schülern vergleichend mit verschiedenen Medien auseinanderzusetzen und die jeweils spezifischen künstlerischen Ausdrucksmittel zu untersuchen. Seit März 2017 gibt es jetzt also auch eine Oper, die die Geschichte über die zwei jugendlichen Ausreißer Maik und Tschick, die sich in einem gestohlenen Auto auf den Weg „in die Walachei“ machen, aufgreift. Die sogenannte „Road Opera“ ist ein Auftragswerk des Theaters Hagen, ausgeführt durch Komponist Ludger Vollmer und seine Librettistin Tiina Hartmann. Dank der Aktion „Jeder Schüler ins theaterhagen“ können Schüler und Studenten nach Voranmeldung kostenlos die Aufführungen besuchen. Diese Gratiskarten werden vom Theaterförderverein Hagen finanziert.

Das Libretto der Oper bleibt nah an der Romanvorlage, was dazu führt, dass die vertonten Zeilen sich nicht reimen oder Liedformen ergeben. Die Stücke leben vom Rhythmus der Worte, Dehnungen und Wiederholungen einzelner Wörter.

Die Sprache ist aufgrund des dargestellten jugendlichen Milieus zeitweise derb bis vulgär. Aufgrund der erwachsenen Darsteller hätte diese Jugendsprache, anders als beispielsweise im Film, durchaus komisch wirken können. Aufgrund der Überzeichnung durch den Operngesang jedoch wurde der sonst typische durch die Darstellung von Jugendsprache von Erwachsenen ausgelöste Fremdschämeffekt mithilfe des klar hervorstechenden Artifiziellen vermieden und wurde so vom jugendlichen Publikum kommentarlos hingenommen.

Viel mehr Diskussionen löste in der Pause hingegen die Entblößung der Brust von Maiks Freundin Isa aus. Von Erörterungen der Moral bis zu Überlegungen zum Beruf Schauspieler führten die Jugendlichen hitzige Gespräche. Hier zeigte sich, dass eine Oper Menschen auf andere Weise erreicht als es beispielsweise ein Fernsehfilm kann, durch den sich Mädchen und Jungen allein zu Hause berieseln lassen können. Allein durch das Ereignis Opernbesuch gemeinsam mit Gleichaltrigen und die fast schon notwendige Besprechung in der Pause und beim Verlassen des Gebäudes nach dem Ende der Vorstellung, kommt es zu einer angeregteren Auseinandersetzung mit dem Gesehenen.

Der Unterschied im Alter der Besucher zwischen Jugendlichen in T-Shirt und kurzen Hosen und gutgekleideten Pensionären wurde auf der Bühne durch einen Fokus auf den Generationenkonflikt in einer Szene gespiegelt, in der Tschick und Maik von „beigen“ Rentnern mit Walkingstöcken umkreist werden und sich dadurch mit der Frage beschäftigen, welche Lebensziele Menschen eigentlich haben.

In Musik, Bühnenbild und Darstellung wurden zahlreiche jugendpopkulturelle Elemente integriert. Beispielsweise werden Sprechchöre mit Beatboxing unterlegt und Breakdancer bereichern eine Szene, in der eine Feier beim beliebtesten Mädchen der Klasse, die die beiden Protagonisten besuchen, stattfindet.

In der Ausgestaltung des Bühnenbilds werden zahlreiche Projektionen und vielfältige andere Technik verwendet. Unter Anderem werden Landschaften scheinbar erst während die Darsteller spielen zusammengestellt, indem eine auf der Projektionsleinwand erscheinende Hand Baum um Baum in der Szenerie platziert.

Protagonisten schweben über der Bühne, laufen über schwankende Stahlträger in zwei Metern Höhe oder wie auf einem Laufband auf der Stelle, das Publikum wird mit blauem Blitzlicht geblendet und schaut schließlich in die Scheinwerfer des herannahenden LKWs, der das Auto, in welchem Tschick und Maik unterwegs sind, zu rammen droht.

Außerdem hängt im Vordergrund über der Bühne dauerhaft eine LED-Anzeigetafel. Diese zeigt immer wieder innere Gedanken oder auch Kommentare zum Geschehen in einzelnen Schlagworten an. Dabei wird leider manchmal zu offensichtlich gearbeitet und den Zuschauern die Möglichkeit genommen, vorhandene Leerstellen selber zu füllen und Gedanken zu entwickeln. Insgesamt gab es hierfür im Stück wenig Zeit. Auch, weil die Musik fast dauerhaft auf einem hochdramatischen Niveau blieb. Dies vermittelte zwar die verschiedenen alles durchziehenden menschlichen Grundkonflikte von Liebe, Anpassung, Sinnsuche, Problembewältigungsmechanismen und finanziellen Sorgen, die den Stoff so besonders geeignet für die Verarbeitung für Jugendliche erscheinen lässt, setzte den Zuschauer aber auch permanentem Stress aus, der dann fast auf die einzelnen gesprochenen Sätze warten lässt, die meist gegen Ende einer Szene die Essenz derselben zusammenfassen und das Gefühl verarbeitungsfertig aufbereiten.

So bleibt keine Zeit, das immer wiederkehrende Stück basierend auf dem Gedicht „Die zwei Parallelen“ von Christian Morgenstern einzuordnen und zu erkennen, dass Isa aus „Max und Moritz“ zitiert, bei Tschicks und Maiks Philosophieren über das Sein durch Denken auf Rousseau zu kommen oder die Szene, in der Schweine aus einem verunfallten Transporter ausbrechen, mit Orwells „Farm der Tiere“ zu vergleichen.
All diese hervorragenden Denkanstöße gehen unter, während plakativ auf naheliegende, auf den Plot bezogene Schlussfolgerungen hingewiesen wird. Einzelne Eindrücke und Assoziationen gehen aufgrund von den zeitweisen Überladungen unter.

Dass diese Oper eher als Gesamtkunstwerk wirkt als durch Identifikation mit einzelnen Charakteren oder besonders eingängigen Ausschnitten zeigte sich auch anhand des Applauses, dessen Lautstärke, unabhängig davon, ob Haupt- oder Nebendarsteller gewürdigt wurden, auf ähnlichem Niveau laut blieb.

Wollte man Oper, Film und Roman gegeneinander ausspielen, müsste man wohl, wie das meist der Fall ist, feststellen, dass der Roman in seiner Feinheit, Authentizität und dem Freiraum, den er gewährt, die Nase vorn hat. Doch gerade dadurch, dass in der Oper sehr viel Theatertechnik genutzt wird, eignet sie sich besonders für eine Einführung von Jugendlichen in die Welt der Oper und für die Diskussion über Vor- und Nachteile verschiedener Darbietungsformen eines Stoffes. Dem Förderverein des Theaters Hagen ist große Anerkennung für die Bereitstellung der Gelder für „Jeder Schüler ins theaterhagen“ auszusprechen. Es bleibt zu hoffen, dass dadurch das Interesse bei jungen Menschen geweckt wird, sodass das Theater für die Zukunft vielleicht einige neue regelmäßige Besucher gewinnen kann.

Bildquelle: eigenes Foto