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Eigentlich soll der Bundestag ja ein repräsentatives Abbild der deutschen Bevölkerung darstellen. Aber mal abgesehen davon, dass dort in erster Linie Akademiker und Gutverdiener sitzen, ist der neu gewählte Bundestag vor allem so männlich wie seit 19 Jahren nicht mehr. Nicht einmal 31 % der Abgeordneten sind weiblich. Während die Linke und die Grünen eine gerechte 50/50 Verteilung vorweisen können und die SPD immerhin auf 40 % kommt, sind es vor allem die konservativen bis rechten Parteien, die den Schnitt nach unten ziehen. Spitzenreiter ist natürlich die AfD, die sich zwar dafür einsetzt, „ihre“ deutschen Frauen vor „nicht-deutschen“ Männern zu schützen, ein politisches Mitwirken von Frauen aber scheinbar ablehnt. 93 Abgeordnete ziehen für die AfD in den Bundestag – nur 10 von ihnen sind Frauen.

Wie mit der offen rassistischen Leitlinie dieser Partei, von der sich 12,6 % der deutschen Bürgerinnen und Bürger (wobei die Wählerschaft zu 69 % männlich ist) angesprochen fühlten, verhält es sich auch mit einem tief in der Gesellschaft verankerten Sexismus. Die feministische Bewegung, die nun seit anderthalb Jahrhunderten um eine Gleichstellung von Mann, Frau und verstärkt seit den 1990ern auch von Transgendern, Queers und Intersexuellen kämpft, erleidet ein weiteres Mal enorme Rückschläge. Nachdem unsere Mütter und Großmütter – und ihre Männer, Freunde und Verwandten mit ihnen – dafür gekämpft haben, über ihren eigenen Körper und ihre Sexualität frei verfügen zu dürfen, studieren und arbeiten gehen zu können, ohne allein als Gebärmaschine und „Putze“ verstanden zu werden, und auf gleicher Augenhöhe wie Männer betrachtet zu werden, zieht nun eine Partei in den Bundestag, die all diese Errungenschaften auf politischer Ebene kippen will. Angefangen mit einem zutiefst konservativen Familienbild, das weder Homosexualität noch Alleinerzieher duldet, über eine klassische Rollenverteilung (sie wäscht, er werkt), bis hin zu einer Verschärfung der Abtreibungsgesetze vertritt die AfD somit die Geschlechterauffassung der 1950er-Jahre.

Da dieser Beitrag aber nicht einfach nur auf den Zug der AfD-Kritik aufspringen will, sondern sich als allgemeine Gesellschaftskritik versteht, habe ich noch ein paar weitere schicht- und parteiübergreifende Zahlen zum Thema Sexismus, die sich auf dessen abscheulichste und frauenverachtenste Äußerungsform beziehen – sexuelle Gewalt:

  • Laut einer aktuellen europaweiten Studie finden 27 % der deutschen Männer „Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung“ okay. Kurz gesagt: Mehr als ein Viertel hat in gewissen Situationen kein Problem mit Vergewaltigungen.
  • Zwar wird nicht jeder zum Täter, der grundsätzlich erst einmal äußert, dass eine Frau halt nicht im kurzen Röckchen durch die Disko tanzen oder einfach etwas konsequenter „NEIN!“ sagen sollte, aber dennoch: Eine Untersuchung aus dem Jahr 2004 fand heraus, dass in Deutschland jede siebte Frau schon einmal vergewaltigt oder sexuell genötigt wurde.
  • Anders als vielerorts behauptet – ja… da bin ich schon wieder bei der AfD – sind die Täter auch nicht die fremden, gar „ausländischen“ Männer, die einem nachts im Dunkeln begegnen, sondern stammen aus dem eigenen Umfeld. 77 % der betroffenen Frauen in Deutschland geben an, dass sie ihren Peiniger kennen. Und in der Regel ist es sogar derjenige, der ohnehin mit ihnen das Bett teilt oder teilte, sprich der (Ex-)Freund oder (Ex-)Ehemann. Da bringt dann auch eine Armlänge Abstand wenig.
  • Das führt zum nächsten Problem: Die meisten Fälle werden nicht mal zur Anzeige gebracht. Und mit den meisten meine ich 84 % (EU-Studie 2014) bis 99 % (LKA Mecklenburg-Vorpommern 2014). Besonders wenn der Täter der eigene Partner oder Verwandte ist, verzichten die Frauen aus Scham oder Hoffnung, es komme nicht noch einmal vor, auf eine Anzeige.
  • Ein weiterer Grund, der Frauen häufig davon abhält, ihren Peiniger anzuzeigen, ist das sogenannte Victim Blaming. Bei dieser “Täter-Opfer-Umkehr” wird dem Opfer getreu dem Motto “Dann lauf halt nicht so sexy rum” selber die Schuld an der Tat gegeben. Nicht selten wird Frauen dabei auch unterstellt, sich an Männern rächen zu wollen.
  • Die wenigen, die doch den Schritt zur Polizei wagen, dürften hinsichtlich ihres Wunsches auf eine gerechte Bestrafung bitter enttäuscht werden: 2012 wurden in Deutschland nur 8,4 % der wegen sexuellen Missbrauchs angezeigten Männer tatsächlich verurteilt.
  • Denn: Eine Frau muss sich körperlich wehren, andernfalls kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich nicht doch um einvernehmlichen Sex handelte. Dem feministischen Leitspruch „Nein heißt Nein“ wird da ebenso wenig Beachtung geschenkt wie dem körperlichen Schutzmechanismus, sich in Gefahrensituationen totzustellen.

Alles keine rosigen Aussichten für Frauen und Mädchen – und das allein auf die Studien über sexuellen Missbrauch bezogen. Denn wie die Spitze des Eisbergs, so ist auch dieses Thema nur das Tröpfchen, was das Fass zum Überlaufen bringt und auf einem strukturellen und tief verwurzelten Ungleichgewicht der Geschlechter beruht.

Frauen verrichten in Deutschland einen Großteil der häuslichen Arbeit, sie übernehmen die Kindererziehung und verdienen bei gleicher Qualifikation weniger Geld. Sie müssen mehr leisten als Männer und sich gleichzeitig immer wieder für den Anspruch, gleichgestellt sein zu wollen, rechtfertigen. Sie müssen Klapse auf den Po weglächeln und sexistische Sprüche abnicken (Weil, das ist ja „nur ein Scherz“ gewesen). Sie müssen attraktiv sein, um im Job positiv aufzufallen, aber dürfen nicht zu schön sein, wenn sie nicht auf ihr Äußeres reduziert werden oder mit sexueller Gewalt gar dafür bestraft werden möchten. Diese und noch viele weitere Faktoren zeugen davon, dass wir von einer Gleichberechtigung weit entfernt sind und der Sexismus noch immer viel Platz in unserer Gesellschaft einnimmt. Das war vorher so und wird sich mit der stärker werdenden AfD noch verschlimmern.

So oder so: Es liegt noch ein weiter Weg vor uns (Männern und Frauen!). Denn die Zahlen, die ich hier benannt habe, beziehen sich bewusst nur auf den deutschen beziehungsweise europäischen und somit gesellschaftlich sehr fortschrittlichen Raum. Welche Mühen, Tränen, Kämpfe, Schmerzen und Opfer die weltweite geschlechtliche Gleichstellung noch erfordert, lässt sich nur erahnen und betrifft bei weitem nicht nur Frauen, sondern auch jene Männer, die selber nicht in das Bild des Alpha-Männchens passen.

Wie lange es bis zur selbigen voraussichtlich noch dauern wird, immerhin das haben die Vereinten Nationen schon einmal berechnet: Behält die Gleichstellung von Männern und Frauen ihr jetziges Tempo bei (wobei die Studie aus dem Jahr 2006 den akuten Rechtspopulismus in Europa nicht berücksichtigt), dann kann mit ihr im Jahre 2490 gerechnet werden. Also Leute: Save the Date!

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