Klassiker

Als Bücherwurm stellt man sich oft die Frage, welches Buch als Nächstes gelesen werden sollte. Für alle Buchliebhaber, die hin und wieder eine Inspiration brauchen, werde ich in meiner „Klassiker-Reihe“ einige Romane vorstellen, die man vielleicht schon immer lesen wollte, lesen sollte, die eventuell Generationen geprägt haben und möglicherweise auch einen wichtigen Bezug zur Gegenwart haben. Beginnen möchte ich mit dem Roman Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch von Alexander Solschenizyn, der im Jahr 1962 in der Moskauer Zeitschrift Nowy Mir als das Erstlingswerk des Autors erschienen ist und dessen Veröffentlichung zu einem Symbol für Befreiung, Hoffnung, Reform und Aufbruch wurde – wenn auch nur kurz.

Der Roman schildert einen Tag aus dem Leben des Häftlings Iwan Denissowitsch – einen Tag einer zehnjährigen Haftstrafe im GULAG, dem russischen Straf- und Arbeitslager unter Josef Stalin. Dem Häftling wird Spionage und Landesverrat vorgeworfen, schlicht und ergreifend, weil ihm nach dem Zweiten Weltkrieg die Flucht aus deutscher Gefangenschaft gelingt. Von russischer Seite ist die Sachlage eindeutig: Wer von den Deutschen kommt, ist ein Deserteur. Erklärt er sich nicht schuldig, so bedeutet es seinen Tod. Iwan Denissowitsch entscheidet sich für das Leben und nimmt die Haftstrafe auf sich. Der Leser begleitet den Häftling vom morgendlichen Aufstehen um fünf Uhr bis zum Moment des Einschlafens und ist ganz auf den Tagesablauf im Lager konzentriert.

„So lebt man also dahin“, sagt er sich, „den Kopf gesenkt, und hat keine Zeit nachzudenken, wie man reingekommen war und wann man wieder rauskommen würde.”

Die Genauigkeit und Sachlichkeit der Erzählung ist, neben der Darstellung des Protagonisten, das Besondere an dem Roman. Iwan Denissowitsch ist mit den denkbar schlimmsten Existenzbedingungen konfrontiert, dennoch gelingt es ihm zu überleben – noch viel wichtiger: Ihm gelingt es seine Selbstachtung zu bewahren. In einem Umfeld, in dem jeder Häftling täglich der Schikane und Bösartigkeit seiner Mitmenschen ausgesetzt und jeder sich selbst der Nächste ist, bleibt Iwan Denissowitsch, ein einfacher Zimmermann, moralisch integer und kämpft für seine geistige Unabhängigkeit. Seine Würde bewahrt er sich durch seine Bescheidenheit, innere Ruhe und sein Selbstbewusstsein.

Der nüchterne und monotone Erzählton erzeugt ab der ersten Seite eine eindrucksvolle Stimmung und Spannung, die sich durch die ganze Erzählung zieht. Dem Protagonisten widerfahren keine großen Abenteuer, der banale Überlebenskampf im Gefangenenlager wird jedoch so authentisch geschildert, dass der Roman durch seinen Realismus mehr als überzeugt. Die einerseits etwas erdrückende Stimmung und andererseits spannende Erzählweise fesselt den Leser an jedes Ereignis, das sich an diesem einzigen Tag abspielt. Der Leser fühlt mit Iwan, denkt wie Iwan und sieht jedes Detail. Es ist diese Kunst des Erzählens, die mich teilweise an Tolstoi und teilweise auch an Fontane erinnert: Die Deteiltreue gepaart mit Emotionen und Wertvorstellung der Hauptfigur, die tief in die Gedankenwelt eindringen und den Leser auch nach dem Weglegen des Werkes nicht ganz loslässt. Selbst nach dem Lesen beschäftigt sich der Leser mit dem Protagonisten und hat irgendwie ein ganz klares Bild von ihm vor Augen. Es ist diese hervorragende Darstellung der Hauptfigur, die das Werk neben dem authentischen Bericht über das Leben in einem russischen Straflager und der historischen Bedeutung des Berichts, so lesenswert und besonders macht.

Seine Glaubwürdigkeit erhält das Werk vor allem durch die Biografie seines Verfassers. Solschenizyn war selber wegen seiner kritischen Äußerungen über Stalin als junger Offizier verhaftet worden. Er wurde des Landes verwiesen und durfte erst nach Stalins Tod zurückkehren. Der Roman ist also stark autobiografisch geprägt. Solschenizyn wurde rehabilitiert nachdem Stalins Nachfolger, Nikita Chruschtschow, den „Entstalinisierungsprozess“ einleitete. Er war es auch, der den Abdruck des Romans genehmigte.

Der Roman erreichte eine hohe Auflage und die Menschen verstanden die Veröffentlichung solch kritischer Zeilen als Zeichen der Hoffnung die vergangene Diktatur aufarbeiten zu können. Wenn ein solches Buch die öffentliche Debatte prägen konnte, schien der Weg zu einer demokratischen Gesellschaft nicht mehr fern. Die Hoffnung hielt nicht lange. Kurz nachdem Chrutschtschow gestürzt und sein Nachfolger Breschnew die von Chruschtschow eingeleitete geistige Öffnung wieder rückgängig machte, schaltete das System wieder um, zurück zu Verfolgung und Unterdrückung. Solschenizyn war von der Staatsmacht, wegen der weiteren kritischen Bücher, erneut nicht geduldet und wurde wieder des Landes verwiesen.

„Der Tag war vergangen, durch nichts getrübt, nahezu glücklich.“

1970 erhielt Solschenizyn den Nobelpreis für Literatur. Das Werk zählt meiner Meinung nach zu den großen Erzählungen des 20. Jahrhunderts.

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