Briefe sind Orte der Ehrlichkeit

Die hallische Autorin Juliane Uhl (*1980) ist thematisch vielfältig unterwegs: Sie schreibt Gedichte aus der Pandemie-Krise, ist Chefredakteurin des Magazins DRUNTER&DRÜBER und hat 2015 das Buch Drei Liter Tod – Mein Leben im Krematorium veröffentlicht. Sie versteht was davon, weil sie in einem Krematorium arbeitet. Kürzlich hat sie auch noch die Gesellschaft zum Erhalt der Handschrift gegründet. Darüber wollten wir mehr erfahren und Juliane Uhl hat sich zwischendurch auch noch Zeit für die Antworten genommen. Mehr dazu gibt es hier: www.julianeuhl.de und hier: www.gesellschaft-handschrift.de 

Frau Uhl, Sie haben mir einen handschriftlichen, dreiseitigen Brief geschrieben und mich damit auch über die Gründung der Gesellschaft zum Erhalt der Handschrift informiert. Wie lange haben Sie für diesen Brief gebraucht?

Das weiß ich nicht mehr, ich schätze mal zehn Minuten. Ich schreibe sehr schnell, dafür brauch ich jedoch manchmal recht lange, um mich hinzusetzen und mit dem Schreiben zu beginnen. Wenn ich dann sitze, fließen die Gedanken sehr zügig auf das Papier. In meinem Kopf ist viel, was gesagt bzw. aufgeschrieben werden will.

Was möchten Sie mit der Handschrift-Gesellschaft bewirken?

Ich will ein Denkmal für die Handschrift, viel mehr aber für das Briefeschreiben, setzen. Briefe zwischen Menschen sind Orte der Ehrlichkeit, der Wahrheit und sie überdauern die Zeit. Meines Erachtens lässt sich aus Briefen Geschichte lesen. Die Menschen schreiben aus der Seele, aus der Tiefe, wenn sie einen Brief schreiben. Und sie wenden sich einander zu, nehmen sich Zeit für einen gedanklichen Austausch.

Ist nicht die SMS in Pandemie-Zeiten die einfachere Methode? Direkt verfügbar. Keine Ansteckungsgefahr auf der Post?

Die SMS ist ja auch schon veraltet. Für schnelle Kommunikation nutze ich andere Dienste, die sehr praktisch sein können. Sie haben aber auch einen großen Nachteil: Die Möglichkeit, immer und jederzeit eine Nachricht abzuschicken und empfangen zu können, erzeugt enorm viel Kommunikationsmüll. Bedenken Sie nur, wie viele sinnfreie, infantile Bildchen und Videos zu Feiertagen verschickt werden. Anstelle eines persönlichen Grußes. Und zur Ansteckungsgefahr will ich nur soviel sagen: Viren gibt es auch in der Digitalität.

Was ist denn das Nützliche beim Erlernen einer Handschrift?

Ich bin kein Hirnexperte, doch ich meine, dass die Handschrift als zusammenhängende Schreibschrift Struktur ins Denken bringt. Da ist zum einen die Tatsache, dass man Wörter als Aneinanderreihung von Buchstaben auf das Papier bringt, in einer Linie, dem Schreibfluss. Die Buchstaben sind die Töne, doch die Linie ist die Melodie. Und ich glaube, dass unser Denken auch melodisch ist, dass es nicht abgehackt funktioniert, sondern ganzheitlich. Wenn ich einen philosophischen Text lese, mache ich mir Notizen, nicht um sie später noch mal zu lesen, sondern weil das Aufschreiben die Informationen in mein Gehirn integriert. Es bleibt einfach mehr hängen, wenn ich nicht nur lese, sondern auch schreibend das Gelesene verarbeite.

Außerdem fördert die Handschrift das Denken an sich. Ich muss ungefähr wissen, wo ich am Ende eines Absatzes sein will, denn ich kann nichts mehr löschen und umstellen. Schreiben macht Gedanken klarer und bringt Strukturen ins Denken. Für mich persönlich ist das auch eine Art Aufräumen. Man muss aber eben den Mut haben, laut zu denken, sich mitzuteilen.

Aber das Tippen einer E-Mail oder eines Textes geht viel schneller. Und man hat nicht ständig diese ganzen Zettel rumfliegen, die man irgendwo abheften muss.

Schnelligkeit ist wahrlich kein Maß für Qualität. Außerdem kann man das Handschreiben trainieren, man wird dann auch schneller. Die vielen Zettel gibt es bei mir nicht. Entweder ich schreibe in Notizbücher oder Briefe, und die schicke ich ja ab. Erhaltene Briefe kommen in eine große Kiste. Ich bin jemand, der nicht ständig Bezug zu etwas nehmen muss, das geschrieben wurde. Jeder Gedanke, den ich lese, landet ja allein durch das Lesen in meinem Kopf und wird dort weiter verarbeitet. Er wird Teil meiner weiteren Kommunikation (wenn er sich als sinnvoll erweist). Ich muss auch an dieser Stelle sagen, dass handschriftliche Briefe einfach besser vor dem Mitlesen Dritter geschützt sind. Wir wissen inzwischen alle, dass Mailprogramme offen für Mitleser sind. Wir haben das akzeptiert. Ich finde es aber nicht in Ordnung und bin auf Briefe umgestiegen.

In welchen Situationen haben Sie denn gemerkt, dass es Ihnen fehlt, mit der Hand zu schreiben?

Mir hat nicht die Handschrift gefehlt, sondern die Tiefe in der Kommunikation. Ruhe im Austausch. Und mich haben seit jeher Geburtstagsanrufe genervt, weil sich der Anrufer aus der Ferne in meine Realität vor Ort einmischt, also er stört meine Feier mit Menschen, die bei mir sind. Ich bin dann einfach nicht mehr ans Telefon gegangen und habe selbst Geburtstagskarten geschrieben und nie angerufen. Jetzt nach ein paar Jahren ernte ich die Früchte. Mich ruft niemand mehr an und ich bekomme Karten. Das Kartenschreiben hat sich dann auch erweitert auf Briefe, die ich ohne Anlass schreibe. Die Idee mit der Gesellschaft kam dann vor ein paar Jahren, aber ich habe sie erst Anfang 2019 zum ersten Mal kommuniziert.

Inwiefern hat Handschrift auch etwas mit Persönlichkeit zu tun?

Alles Geäußerte hat etwas mit Persönlichkeit zu tun. Wie ich schon sagte, fördert die Handschrift das Denken, das freie Denken. Und das wird sich in der Persönlichkeit manifestieren. Graphologen meinen, den Charakter aus der Handschrift lesen zu können. Davon halte ich nicht so viel. Wichtig ist, was geschrieben wurde und nicht, wie das Schriftbild aussieht.

Wie können wir heute zu mehr handschriftlichem Schreiben zurückkommen?

Ich kann Ihnen nur sagen, wie ich es mache: Ich schreibe Briefe oder Postkarten, auch an fremde Menschen, bei denen ich meine, dass ein Austausch spannend sein könnte. Daraus ergeben sich, bisher sehr erfolgreich, Brieffreundschaften. Außerdem hinterlassen wir als Familie handschriftlichen Dank, meist geschrieben auf Servietten, im Restaurant. Ich versehe, wenn möglich, alles mit meinem Stempel auf dem „Gesellschaft zum Erhalt der Handschrift“ steht, um beim Empfänger den Impuls zu wecken, auch mal wieder zu schreiben.

Kommen wir mal zum Erlernen der Schrift. Mehr als ein Drittel der Grundschulkinder habe Probleme, eine lesbare Handschrift zu entwickeln. Macht uns ständiges Tippen auf Handys und Computern dümmer?

Nicht das Tippen macht uns dümmer, sondern das Vernachlässigen der Handschrift und des damit zusammenhängenden tieferen Denkens. Digitale Medien liefern uns Informationen, sehr viele Informationen, immer neue Informationen. Zu Wissen werden sie aber erst durch einen kognitiven Prozess. Wenn man immer das nächste lesen oder anschauen muss, findet das nicht statt. Dann überlagert die neueste Information die alten und im Grunde weiß man dann nichts, außer dem was gerade aktuell ist. Zusammenhänge erkennt man jedoch erst, wenn man viele Informationen verarbeitet hat. Ich sage ihnen, wenn das passiert, wenn sich all die Dinge, die ich gelesen und schreibend reflektiert habe zu einem großen Ganzen zusammenfügen, das ist ein Fest. Erkenntnisoffenbarung könnte man es nennen. Ich liebe das.

Welche Handschrift soll es bei Ihnen denn sein: Schulausgangschrift, vereinfachte Schulausgangsschrift oder reicht auch Druckschrift?

Da ich die durchgängige Bewegung, den Schreibfluss wichtig für den Denkprozess finde, würde ich die vereinfachte Schulausgangsschrift bevorzugen. Völlig sinnfrei halte ich das Verbinden von Druckbuchstaben zu einer schreibschriftähnlichen Gattung. Es ist für die Feinmotorik wichtig, einen Schreibfluss zu entwickeln. Dass das später wieder ausfranst und jeder sein ganz eigenes Schreibbild entwickelt, ist völlig ok. Aber zum Schreibenlernen braucht es erstmal eine einheitliche Form.

Das Schreiben in Druckschrift gleicht ein wenig dem Tastaturschreiben, es ist eher ein Stakkato als eine Melodie. Da fällt mir noch ein weiterer Vergleich ein: Wenn ich klassische Musik höre, die eine Melodie hat, kann ich nachdenken. Wenn ich Technomusik höre, wird mein Denken ständig unterbrochen. So stellt sich das für mein Schreiben auch dar. Das Abgehackte ermöglicht keinen Fluss.

Haben Sie auch einen Bezug zur Kurrentschrift, also zur „Deutschen Schreibschrift“?

Da musste ich jetzt erstmal nachschauen. Diese Schrift ist wunderschön, aber ich sehe schon, dass man sie nur gut schreiben kann, wenn man viel schreibt. Die Hand braucht Training. Ich kann diese Schrift mit Mühe lesen und ehrlich gesagt, wäre es mir zu aufwendig, diese Schrift zu lernen, die dann kaum jemand lesen kann. Schrift ist Kommunikation und die funktioniert nur, wenn alle das Geschriebene lesen können.

Handschriftliches Schreiben fördert die kognitive und motorische Entwicklung. Wir können uns Handgeschriebenes besser merken. Handschrift hilft beim Ausbilden seiner Persönlichkeit. Alles Vorteile, aber kaum jemand schreibt noch mit der Hand. Warum ist das so?

Darüber kann ich nur Vermutungen anstellen: Fehlende Zeit, fehlende Muße, Oberflächlichkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen an sich – das sind die Gründe, die ich vermute. Der Gedanke, wenn man etwas zu sagen hat, schnell anzurufen oder eine Nachricht zu schicken, vielleicht noch eine Mail, wenn es etwas ausführlicher sein soll, ist beherrschend. Dass das Schreiben der eigenen Kontemplation dient, wurde vergessen. Wir leben in einer wahnsinnig schnellen Zeit. Darüber beschweren sich auch viele und suchen sich ausgleichende Hobbys. Ich arbeite hauptberuflich in einem Krematorium, ich weiß, wie allgegenwärtig der Tod ist und aus diesem Grund habe ich mich selbst ermächtigt, die Schnelllebigkeit einfach nicht länger zu bedienen. Ich komme zur Ruhe beim Schreiben, ich baue Beziehungen auf, ich denke. Und wenn ich am Ende mal auf meinem Sterbebett liege, dann schreibe ich meinen letzten Brief – es wird der ehrlichste und mutigste sein.

Dieses Interview wurde von Dr. Holger Klatte geführt.
Foto: Knut Mueller