Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?

Die Geschichte des deutschen kolonialen Erbes wird seit jüngster Zeit verstärkt thematisiert. Nicht erst seit den Protesten der Black-Lives-Matter-Bewegung wird nach den Narrativen und Strukturen gefragt, die bis zum heutigen Tag Ausgrenzung, Rassismus und allgemeine Menschenfeindlichkeit unterfüttern. In Deutschland entzündete sich am Berliner Humboldt Forum eine Debatte um die deutsche Kolonialgeschichte, um politische und moralische Verantwortung gegenüber denen, die seinerzeit systematisch ausgebeutet, entrechtet und getötet wurden.

Somit scheint es schwer verständlich, warum es als Angriff auf bestimmte Personen der deutschen Geschichte verstanden wird, wenn nun ihre Rollen während der Kolonialzeit kritisch hinterfragt werden. Eine plausible Antwort hierauf gibt der Historiker Jürgen Zimmerer, der annimmt, dass „Denkmäler Monumente kollektiver Identität sind …“, weswegen „der Streit um Denkmäler auch ein Streit darüber,“ sei, „wer darüber mitreden kann und darf und wer Gehör findet. (Zimmerer 2019)“

Die Diskussion um Straßennamen und Denkmäler ist dabei Teil dessen, was ich die diskursive Ebene nennen möchte. Sie ist gesellschaftlich wichtig – verdeutlicht und verhandelt sie doch wesentliche Elemente eines kritischen Geschichtsbewusstseins und bestehender Machtverhältnisse. Die andere Dimension ist die materielle, die der ökonomischen Abhängigkeiten und Besitzverhältnisse. In dieser materiellen Dimension, scheinen mir vor allem Kulturgüter von besonderer Relevanz zu sein:

Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy geht davon aus, dass Kulturgüter eine eminent wichtige Funktion besäßen. Kulturgüter, und im engeren Kunstwerke, seien wichtige Zeugnisse vorangegangener Gesellschaften. Sie fungierten gewissermaßen als historische Zeitmesser, die durch ihre Existenz Vorangegangenes begreiflich machten. Mit dieser Zeugenschaft werde eine permanente Brücke zwischen dem Gewesenen und dem Jetzt ermöglicht, dessen Kraft sich in die Zukunft hinein fortsetzte (vgl. Savoy 2018: 16f.). Savoy spricht von einer „sich ständig erneuernde[n] Begegnung zwischen den Sterblichen […] und den – vielleicht beinahe – Unsterblichen (das sind sie, die Objekte) (ebd.: 17)“. Neben dieser transtemporalen Dimension von Kulturgütern wiesen diese wichtige Funktionen für ein aktuelles Verständnis von Kultur auf.

So weist Savoy berechtigterweise darauf hin, dass Kultur immer durch wechselseitige Aneignungs-, Vermittlungs- und Anpassungsprozesse entstehe, was eine Auffassung von rein nationalen Kulturräumen als disjunkte Einheit unmöglich macht (vgl. Savoy 2018: 18). Die durch Kulturgüter geschaffene gemeinsame Geschichte oder Identität müsse eben als „ein Ergebnis grenzüberschreitender Verflechtungen häufig weit auseinanderliegender kultureller Räume (ebd.: 18)“ begriffen werden. Ebenso wie diese Arbeit, betrachtet auch Savoy in ihrem Essay den Zusammenhang von Kolonialismus und Kulturgut. Dabei stellt sie fest, dass der Handel mit zum Beispiel afrikanischer Kunst, welcher um 1800 begann, zuerst mit einer Andersartigkeit im Sinne des Exotismus behaftet war. Mit dem Aufkommen des Verlangens nach außereuropäischer Kunst sei auch ein Wandel des Bewusstseins in Bezug auf Besitz verbunden.

So hätte vor der Französischen Revolution nicht der physische Besitz der Objekte im Vordergrund gestanden, sondern die intellektuelle Beschäftigung mit diesen. Erst mit der Moderne fielen also materielle Aneignungsprozesse und die Verbringung von Kulturgut zusammen (vgl. ebd.: 21f.). Im Zuge der folgenden europäischen Kolonialgeschichte vertritt Savoy eine dezidierte Meinung. Die Kolonien hätten eine „hohen kulturellen Tribut an Europa (ebd.: 34)“ zahlen müssen.

Im Sinne einer Austauch- und Verständigungsfunktion von Kultur könnten außereuropäische Kunstobjekte jedoch dazu beitragen „Kultur nicht im statischen Sinne kanonischer Kenntnisse, sondern im dynamischen von Bildung und Entfaltung (ebd.: 40) [Hervorhebung durch die Verfasserin]“ zu verstehen. Das scheinbar Andersartige reiht sich ein in den Kontext des kollektiven Menschseins, des kreativen Schaffens und der Gestaltung. Neben diesem positivutopistischen Ideal stellt Savoy konkrete Bedingungen an die Institutionen der kulturellen Vermittlung, namentlich Museen, die hier kurz rezipiert werden sollen.

Savoy fordert eine Selbstreflexion und Selbsthinterfragung der Institutionen in Bezug auf verschiedene Bereiche. Grundsätzlich müssten Kulturgüter wieder mit ihrer ursprünglichen Geschichte verbunden werden, es sei eine Rekontextualisierung notwendig (vgl. ebd.: 54). Dieses Vorhaben müsse mit einem Umdenken auf sprachlicher Ebene einhergehen. Sprachliche Gewohnheiten müssten überprüft und angepasst werden. Die Nutzung historischer Begrifflichkeiten sei anachronistisch und solle einem zeitgenössisch angemessenen Vokabular weichen. Hinzu kommen müsse ein Aufarbeitung und Offenlegung der historischen Zusammenhänge, in Verbindung mit der Erwerbs- und Ausstellungshistorie. Dieses Vorhaben solle dabei als Dialog und partnerschaftliches Projekt mit den Herkunftsgesellschaften der Kulturobjekte verstanden werden, was auch die Konstruktion von rechtlichen Rahmenbedingungen mit einschließe (vgl. ebd.: 54-58).

Eine besondere Bedeutung komme der Provenienzforschung zu. Dieses Expertenwissen müsse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, um somit die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Diskurses zu eröffnen (vgl. ebd.: 56). Ferner stellt sie den Umgang mit Kulturgütern in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Wie ein Land mit Restitionsansprüchen umgeht kann als Indikator für die Vergangenheitspolitik eines Staates angesehen werden.

„Natürlich messen sich die Folgekosten einer intransparenten Provenienzpolitik in Museen nicht in Dollar und Euro. Es sind gesellschaftliche und politische Kosten, die entstehen, wenn eine Gesellschaft sich ihrer Vergangenheit nicht annehmen will oder kann (Savoy 2018: 56)“.

Ich bin der Ansicht, dass neben der diskursiven Dimension die materielle Dimension des Kolonialismus stärker bedacht werden muss. Aufarbeitung, darf nicht nur die Umbenennung von Straßen und kritische Einordnung von Denkmälern sein, sondern muss die Restitution von Kulturgütern und mögliche Reparationen umfassen.

Quellen:

Savoy, Bénédicte. 2018. Von der Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zum universalen Menschheitserbe. Matthes und Seitz: Berlin.

Zimmerer, Jürgen. 2019. Kein Denkmal ist für die Ewigkeit. URL: zeit.de.

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