Abschied oder Ankunft? – Teil 1: Klangfarben der Ewigkeit

Ein bezaubernder Wintermorgen. Die imposanten Wolkentürme erstarrten im Himmelszelt und begannen anmutige Bilder vor unser geistiges Auge zu führen: Wir wähnten einer Phalanx aus kampfbereiten Kriegerinnen gegenüberzustehen. Zu Pferde waren sie, inmitten ihrer gravitätisch dahinschreitenden Matriarchin, die furchtlos und kühnen Blickes zum Angriff blies gegen die Horden der Finsternis.

Plötzlich einsetzender Wind peitschte über das einsame Gleis vor uns, während wir jenen Bahnhof von scheinbar unsäglicher Kargheit betraten. Ungeachtet seines baulichen Alters verspürte man als Besucher indes auch einen Hauch von nostalgischem Charme im Angesicht des umliegenden Brachlands samt der versperrten Halle. Neben den sich ablösenden Farben auf dem prächtigen antiken Holz wurde unser Blick unvermittelt auf jene seltsamen Zwiebeltürme gelenkt, die unter der gleißenden Sonne in die Leere funkelten. An ihren Spitzen hatte man azurn schimmernde Glöckchen angebracht, welche der nun eintreffende Luftstoß sichtlich in Schwingung versetzte. Sanfter Klang drang an unsere Ohren. Eine einsame Katze hatte man zum Bahnhofsvorsteher ernannt, in eine Uniform gewandet und auf einen Sockel gesetzt. Hier wurde Geschichte geschrieben, wenngleich nicht immer: Schließlich war niemand zugegen – abgesehen von vereinzelten Schatten, die mit langen Gesichtern über das Pflaster und zwischen die Ritzen der Holzbretter huschten. Ehe wir unsere Mäntel hochklappten, wurden wir erneut der Reiterkolonne gewahr, die eingedenk des zunehmenden Windes in sich zusammenfiel, als ob sie uns Schaulustigen ihren letzten Gruß entböte. Wir nahmen Platz auf einer am Gleis befindlichen Bank und ergaben uns in die sich darbietende Nichtigkeit.

Achtbare Eigenheiten – versagt. Ungetrübte Augenblicke – vergessen. Jugendliche Freundschaften – veräußert. Geliebte, geschätzte Menschen – verloren, verschollen geglaubt. Wir hatten uns eingestehen müssen, dass dem profanen Dogma der Jahrtausende auch von uns kein Einhalt mehr geboten werden konnte. Unserem geringen Lebensalter zum Trotz schienen wir die Segel zu streichen – gleich fürstlichen Veteranen, die erblassen und entmutigt ihren Geist aushauchen. Vergänglichkeit in allen ihren mannigfaltigen Facetten musste früher oder später selbst verwegene Eiferer der Beständigkeit zittern machen und resigniert zum Aufgeben nötigen.

»Der Mensch flieht die Widrigkeit und sucht Zuflucht in Welten, die er seinen eigenen Wünschen gemäß vorzufinden glaubt; Träume überhöhen unsere Erinnerungen samt dem, was wir unserer Zukunft für würdig befinden«, erklärte ich.

»Was ist schon dabei? Ewigkeit und Unendlichkeit, wie sie vormals gepriesen wurden, erweisen sich ohnehin als Zerrbilder, denen wir allzu lange bereits in unbesonnener Arglosigkeit erlegen sind«, entgegnete mein Gegenüber.

Unvermittelt passierten zwei junge Frauen das Gleis und ließen sich auf der angrenzenden, von uns geschiedenen Bank nieder. Verblüffend alltäglich wirkte ihr Zugegensein, obgleich wir uns nicht im Mindesten darüber im Klaren waren, wie sie auf den Bahnsteig gelangt sein mochten: Sie konnten weder einem Zug entstiegen sein – alles war in himmlische Stille gehüllt –, noch hätten sie anstandslos in unserer Unkenntnis das überschaubare Terrain betreten.

Man konnte nur erahnen, was sich hinter den glasigen Schlieren der zwischen uns befindlichen Scheibe im Einzelnen zutrug. Offenbar beabsichtigte nur eine der beiden die Reise anzutreten: Ihr in unser Blickfeld hineinreichendes Gepäck hatte sie verraten. Das Gegenüber ergriff schließlich – ganz einerlei zu welchem Zeitpunkt – das Wort und tat ohne Weiteres seine Absicht kund, einige Texte zu verlesen, die ihr bei der Lektüre eines ambitionierten jungen Schreibers ins Auge gefallen seien. In seinen Büchern handle jener von allen Spielarten der Ewigkeit, die man bis zu diesem Tag noch nicht allumfassender Belanglosigkeit anheimgegeben habe; von diesen reinen Augenblicken innigen Betrachtens, die keinen Zweifel daran ließen, dass das vergänglich Gewähnte dereinst zu meisterhafter Vervollkommnung gelangen könne.

Wir merkten auf und machten uns gegenseitig begreiflich, dass diese Schriftstücke auch für unsere klägliche Schieflage von besonderem Interesse sein dürften. Also lauschten wir, während der Reisenden jene verheißungsvollen Schriften von ihrer Vertrauten zum Besten gegeben wurden. Ohne zu zögern, ließ sie ihre klare Stimme erklingen; es hatte den Anschein, als blättere sie willkürlich in dem dünnen Büchlein und erwähle zufällig eine Seite, um sie dann zu Gehör zu bringen.

»Sanft und fein, klar und sichtig / Grazil und flüchtig, doch niemals nichtig / So mag und kann nichts andres sein / Als unsre Stimme, so stark und rein.

Aus dem Tagebuch eines Schweigsamen:

Wir scheinen dieser Tage allzu sehr der Strahlkraft des Optischen zu unterliegen und werden gleichsam verblendet in Hinsicht auf die Mannigfaltigkeit dessen, was sich uns kraft der anderen Sinne im weitesten Begriffsrahmen darbietet. Obgleich achtbare Federn sich unterfangen haben, dem Geruchssinn und dem Gehör beispielsweise in einen höheren, ihnen gemäßen Rang zu verhelfen, so bleiben dies doch vereinzelte Befreiungsschläge, die keinerlei nachhaltige Tiefenwirkung entfalten. Gleichermaßen ist es um unsere allgegenwärtige Stimme bestellt: Nicht wegzudenken und Quelle so vieler Gefühle, Trägerin so vieler Äußerungen, körpereigenes Instrument und zweiter Spiegel unserer Seele; dessen ungeachtet bei weitem nicht mit der gebotenen Achtung versehen. Geringstenfalls ebenbürtig tritt sie der bunten optischen Welt gegenüber, der wir allein unsere Metaphern zu entnehmen pflegen: Nicht umsonst ist wieder und wieder von Klang- und Stimmfarben die Rede, ohne dass die Vielgestaltigkeit und Fülle ihres Wirkens auch nur im Mindesten erfasst wäre. Unsere Stimme ist weder Sinn noch Organ, noch ist ihr überhaupt ein materielles Substrat beschieden, noch ist sie eifrig bestrebt, anderen Reizformen den Rang abzulaufen oder dergleichen. Nein, ein stilles und doch lautes Medium vermag sie vorzustellen, wiewohl ihr ein nicht einmal fragmentarisch erschlossener Reichtum an Ausdrucksweisen eignet. Wir sollten ihr des Öfteren mit der ihr zustehenden Würde begegnen, denn gerade vermöge ihrer Flüchtigkeit und Zerbrechlichkeit steht sie im Begriff, den jeweiligen Augenblick in ein magisches Spiel zu hüllen, welchem – der allenfalls statischen Optik gegenübergestellt – ein ungleich höherer Wert beizumessen ist. Während letztere für selbstverständlich gilt und auch nach unserem Ableben in kühler Dynamik fortzubestehen scheint, so führt erstere zu einer derartigen Verdichtung des Moments, dass von Ewigkeit im außermetaphysischen Sinne legitimerweise die Rede sein darf. Ungeachtet der Tatsache, dass wir aus naturalistischer Sicht nicht dazu neigen, uns dem anzuschließen.«

»Bemerkenswert«, warf ich leise ein, als die Gefährtin der Reisenden unvermittelt geendet hatte.

»Zwar hatte ich mir etwas anderes unter einer Erzählung vorgestellt, doch nun gut, das mag man dem Schweigsamen als Verfasser des Tagebuchs nicht verdenken. Seine Ausführungen sind es wert, Gehör zu finden, wenn auch unter Absehung von dogmatischen Anmaßungen, wie sie bisweilen hinter den kühnen Sätzen hervorschauen.«

»Stimme als Facette einer neuen Ewigkeit«, fuhr mein Kamerad fort. »Intensität, die den gemeinhin erhobenen Ansprüchen der Unendlichkeit – der Dauer und Konstanz – nicht genügen kann und dennoch eine ähnliche Faszination ausstrahlt. Ich bin entzückt.«

Wir gedachten unser Gespräch weiterzuführen, doch hinter der Scheibe wurde schon die nächste Geschichte ausgewählt: Schule für immer und ewig? Wir lauschten gebannt ihren Worten.

Fortsetzung folgt …

______

Foto: privat