Abschied oder Ankunft? – Teil 2: Der ewige Schüler

Sie deklamierte: »In einer Parallelwelt:

Erstens:

Ich saß in mich gekehrt auf meinem Stuhl, die Arme nachdenklich gegen eine der Tischplatten gestemmt. Versengende Strahlen der winterlichen Morgensonne drangen beharrlich in den nebenan gelegenen Lichthof. Hachikoo, das Schulmaskottchen, bellte durch die weiten Gänge und trabte treugesinnt zu seinem festen Platz am Haupteingang.

Der letzte Tag war angebrochen; der Klang der Schulglocke drang mit blecherner Strenge an mein Ohr. Eintretende Schüler würdigten mich keines Blickes – mich, der ich doch nun acht Jahre schon jeden Morgen vor der Schule hier auf meine Studien verwendete. Ein ehrgeizig anmutendes Mädchen betrat den Raum mit eiligen Schritten, stürmte zum Bücherregal, um ein verstaubtes Exemplar ihres Lehrbuchs zu konsultieren und schließlich an seinen Platz zurückzulegen. Als sie in Richtung Klassenräume aufbrach, kreuzten sich unsere Blicke. Ihre kristallblauen Augen brachten neben Verwunderung auch Verachtung zum Ausdruck: Nicht nur, dass sie mein morgendliches Ritual in jeder irgend erdenklichen Weise despektierlich beäugte, nein, allein die Präsenz eines scheidenden Schülers schien ihr zuwider zu sein. »Wer mag das Leben meistern?«, entgegnete sie meinem konsternierten Antlitz, ohne dass ich etwas Kluges zu erwidern wusste. Und plötzlich ergriff mich ein dumpfer Schauder aufkommender Melancholie. Es wirkte – dies will ich einräumen – äußerst seltsam, dergleichen nostalgische Phantasmen schon jetzt zu gewahren, ehe ich überhaupt das zu Ende geführt hatte, dessen niemals zu übertreffender Höhepunkt noch unausbleiblich bevorstehen sollte – die große Verabschiedung. Nostalgie – zumindest das, was man gemeinhin darunter verstand – war doch gerade das, was man in vermeintlich vergangenen Begebenheiten abgespiegelt sah. Mithin konnte diese Stimmung allein dergestalt überhaupt statthaben und beschaffen sein, dass ich sie nur jenseits alles Bekannten aufzufinden vermochte. Die gegenwärtigen Augenblicke waren von solcher Einzigartigkeit, dass sie sich nicht als Phänomene unseres gemeinen Gebarens verorten ließen. Prosaisch betört packte ich nun endgültig zusammen und suchte nachdenklich die im Ostflügel eingerichteten Prüfungsräume auf.

Auf dem Weg über reinlich gleißende Marmorgänge stieß ich auf unzählige Lehrer. Pausenlos dachte ich an Anastasia, das war ihr Zweitname, mein letzter Trost im Strudel der Verlustängste. Ihr Auftreten hatte seit jeher gemahnt an etwas Höheres, Übermenschliches, Besonnenes. Sie verfügte über solche Anmut, solche Entschlossenheit – und ich war es, der mit ihr zusammen eine Rede am besagten Abend vortragen durfte. Nur die unvergleichliche Leere, die die Zeit danach betraf, gereichte mir zu großem Kummer. Würden wir uns wiedersehen, würde ich ihr gegenüber offen sprechen können? Für gewöhnlich duldete ich keinen Widerspruch von Gleichaltrigen und ahndete ihn mit Desinteresse gleichermaßen wie mit Hochmut. Anders bei Anastasia: Ihre Unerschütterlichkeit hatte ich stets mit vortrefflicher Hingabe über mich ergehen lassen. Sie drohte hin und wieder meiner Verklärung anheimzufallen, wiewohl sie doch auch nur ein Mensch war – mit Schwächen und Blößen.

In diesem Augenblick ging ich in die Knie und gewahrte leicht, dass meine Kräfte schwanden. Meine gute Bekannte, die Lehrkraft Lustadt, erblickte mich im Gang und half mir auf. Es sei Zeit, dass ich mich ungeachtet meiner Verdienste für das Haus und meine Fächer von der Schule löste, um mich dem zuzuwenden, was mir als wahrhafte Bestimmung zukomme. Dieser Duktus behagte meinem nostalgischen Gemüt ganz und gar nicht. Ich setzte meinen Weg mit schmerzverzerrtem Lächeln fort, von dunkler Betrübnis gepeinigt.

Zweitens:

Den angebrochenen Tag verlebte ich mit besonderer Achtsamkeit, ohne dabei etwas von meiner Sentimentalität einzubüßen. Jene große Fülle an Beziehungen, die ich pflegte, trieb noch einmal voll bemerkenswertem Eifer ihre zartgliedrige Blüte empor. Zunehmend sah ich mich indes genötigt, meine Anwesenheit wem auch immer gegenüber zu rechtfertigen. Dem Unterricht beiwohnen zu müssen, erwies sich im Spätherbst meiner Gymnasialschulzeit nicht mehr als hinlänglicher Grund. Mit Anastasia brachte ich zwar bisweilen heitere Stunden zu. Nachdem sie eines Abends wortlos von dannen gezogen war, gab ich mich jedoch vollends der Schwermut hin: Ihr klarer Blick hatte eine unbewusste Erinnerung in mir wachgerufen, allerdings war ich außerstande, sie begrifflich zu fassen. Dass ein denkwürdiger Tag vor der Tür stand, dies unterlag jedenfalls keinem Zweifel. Man eröffnete mir voller Stolz, welche ehrbaren Persönlichkeiten zugegen sein würden, welche bemerkenswerten Mittel zu Gebote ständen, um die Veranstaltung zu einem unvergleichlichen Triumph zu stilisieren. Mein Trübsinn nahm überhand.

Drittens:

Als ich nachmittags mit meiner Begleitung den gewaltigen Lichthof betrat, verspürte ich ein Gefühl zeitloser Erhabenheit. Mich ergriff ein kurzer Schwindel, den ich indes für unerheblich befand, während ich mir auf der Bühne die anwesenden Menschen vorstellte. Ich hätte mir nichts davon zu gewärtigen, entgegnete auch die beschäftigte Anastasia vom Rednerpult aus. Vor diesem Hintergrund den Faden wiederzufinden, erwies sich als diffizil. Unvermittelt verschwand ich in einer der Toiletten; sie erschien schließlich hinter dem Spiegel.

»Komme ich dir nicht bekannt vor?«, fragte sie einfühlsam und bestimmt.

»Wer mag das Leben meistern?«, erklang es. Mit einem Mal gewahrte ich die Ähnlichkeiten, die ich seinerzeit verdrängt hatte. »Du? Du Meisterin der Täuschung!«

Unvermittelt wurde sie in den Lichthof zurückgerufen. Ich weilte einen Augenblick und ergab mich in mein Schicksal: Sie war mir an jenem Morgen seinerzeit aus unerfindlichen Gründen verkleidet gegenübergetreten.

Viertens:

Später am Abend: Endlos war die Liste der zu verleihenden Preise. Sie war von solchem Umfang, dass dem Zeremoniellen kaum noch ein authentischer Stellenwert zukam, der sich nicht auf die mechanische Überreichung beschränkte. Nun aber, so die Schulleitung, gelte es einer ganz besonderen Darbietung zu lauschen, wenn endlich die »Elite« zum Zuge komme.

Anastasia und ich erklommen die Bühne, unsere Rede begann zunächst ohne erwähnenswerte Vorkommnisse. Dann, da sie mir im Rahmen des Programms die Hand reichte, ging ich widerwillig in die Knie. Ich vermochte nicht … Ihr verschwommenes Antlitz versetzte mich in Gefilde, die kein Mensch …

Notiz von Anastasia:

Er fixierte mich nur unzureichend. Die Menschen verfielen in Aufruhr. Meine Tränen kullerten auf seine Wangen herab. Er atmete nicht. Es war vorbei. So viel zu sagen, alles versäumt. Die Zeit war ein Kreis. Ich war es doch gewesen, ich habe ihn verstört mit der albernen Maskerade!

Notiz von Lehrkraft Lustadt:

Konsterniert suchten viele Zuschauer das Weite und verloren sich in auseinanderströmenden Menschenmengen. Anastasia erwies sich als Geisel ihrer Gefühle. Auch ihre Bemühungen vermochten ihn nicht zurückzubringen. Welchem Leiden er schlussendlich erlag, wer mag das wissen?

Fünftens:

Ich saß in mich gekehrt auf meinem Stuhl, die Arme nachdenklich gegen eine der Tischplatten gestemmt. Hachikoo bellte, ewig wartend – so wie ich –, kam auf mich zu und ließ sich streicheln. Menschentrauben strömten in den Lichthof; inmitten ihrer Anastasia. Alle Pein war vergessen, keine Verlegenheit mehr. Ich war mit Recht an dieser Schule, wir waren es, für ewig und immer. Sie kam auf mich zu und reichte mir die Hand. Den Gruß erwiderte ich mit einem anmutigen Lächeln.«

Es kam also gar nicht auf Ewigkeit im zeitlichen Sinne an. Ein Phänomen, das man füglich als Geistesblitz bezeichnen konnte: Die hier skizzierte Form der Unendlichkeit erschöpft sich nicht in einem arithmetischen Spektrum, sondern ist als solche wirksam, weil jeder Moment, der das Licht der Welt erblickt, nicht mehr ersterben kann, ohne nicht wenigstens für ein Augenzwinkern bestanden zu haben.

Fortsetzung folgt …

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Foto: privat

Dem »Leibniz« zugeeignet