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Über das Schöne

Seit er in der Steinzeit erste Stierbilder auf die Höhlenwand gemalt hat, beweist der Mensch seinen Sinn für das Schöne. Dem Schönen nachzustreben ist ein urmenschliches Bedürfnis, sei es in der Kunst, Musik und Literatur, sei es in der Einrichtung der eigenen Wohnung, sei es im Umgang mit Freunden oder bei gutem Essen und Wein. Seit der Antike wurden ganze philosophische Systeme aufgebaut, welche die Schönheit erklären sollten, und die ihr gewidmet sind.

Um so bedauernswerter ist es, das zeitgenössische Kunst die Schönheit als etwas Naives, Kindliches abtut, das der aufgeklärte Mensch des 21. Jahrhunderts längst hinter sich gelassen hat. Die Kunst in der heutigen Zeit muss problematisch, komplex, gerne auch hässlich und vor allem intellektuell sein. Die bloße Schönheit, welche die innersten Saiten in uns zum Klingen bringt, wird mit überlegenem Lächeln ignoriert. Dabei ist die Schönheit selbst, als äußere Erscheinung, nur eine Unterkategorie. Das Schöne an sich ist vor allem inneres Empfinden, ein Zustand der Ruhe frei von allem Wollen, und die Suche danach ist Sinn und Zweck allen menschlichen Daseins.

Im Deutschen beschreibt das Adjektiv „schön“ nicht nur äußere Schönheit: Es gibt den schönen Abend, der sich auf die Stimmung bezieht; oder die schöne Geste, die etwas Moralisches bezeichnet. Das Französische ist hierin dem Deutschen ähnlich, wenn man von dem „beau geste“ spricht, oder von der „belle soirée“. Im Englischen dagegen weist „a beautiful evening“ eher auf das Wetter hin, „a lovely evening“ wäre dagegen stimmungsvoll. Ebenso würde ein Brite „a beautiful gesture“ eher als eine äußerlich schöne Geste empfinden, „a wonderful gesture“ hätte moralischen Gehalt.

Um für den Augenblick bei englischer Kultur zu bleiben, ist in diesem Zusammenhang eine Stelle aus Evelyn Waughs Roman Brideshead Revisited (1945) zitierenswert. Die Hauptfigur Charles Ryder spricht mit seinem Studienfreund, dem jungen Aristokraten Sebastian Flyte, über dessen Katholizismus, und äußert: „Du kannst doch nicht an etwas glauben, bloß weil es schön ist.“ Flyte erwidert: „Warum nicht? Das ist der hauptsächliche Grund, aus dem ich glaube.“

Hier klingt eine mögliche Erklärung an, warum die Gegenreformation des 16. und 17. Jahrhunderts so erfolgreich war: Die katholische Kirche wollte die Abtrünnigen durch bewunderndes Staunen von der Richtigkeit ihrer Lehre überzeugen – denn etwas so Schönes könne nur durch den einzig wahren Glauben hervorgebracht worden sein – und sie durch überwältigende Schönheit zurückgewinnen. Wer die barocken Kirchen Roms, Madrids oder Wiens besucht, kann das verstehen.

Schwenken wir von äußerer Schönheit zum Schönen selbst um, das als Konzept weiter gesteckt ist. In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur an ihn im Dezember 1987 sagte der russische Dichter Joseph Brodsky:

On the whole, every new aesthetic reality makes man’s ethical reality more precise. For aesthetics is the mother of ethics; The categories of “good” and “bad” are, first and foremost, aesthetic ones […]. If in ethics not “all is permitted”, it is precisely because not “all is permitted” in aesthetics […]. The tender babe who cries and rejects the stranger […] does so instinctively, making an aesthetic choice, not a moral one.

 Ästhetik ist, für Brodsky, eng mit Moral verbunden, ja sogar die überlegene Kategorie, aus welcher die Moral überhaupt erst hervorgeht. Bei Friedrich Schiller dagegen ist Ästhetik und Moral getrennt. In seiner als Briefe zusammengestellte Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) legt er dar, dass uns das Schöne in der Kunst anspricht, gerade weil es nicht notwendigerweise logisch, moralisch oder physisch erklärbar ist, sondern vielleicht rein ästhetisch. In der idealen Kunst halten sich Stoff und Form die Waage, ohne dass das Eine über das Andere dominiert.

In den Briefen neunzehn bis zweiundzwanzig führt Schiller aus, dass der Mensch eine freie Stimmung ohne Zwänge und Nötigung anstrebt – den ästhetischen Zustand. In diesen Zustand gelangt er durch Kunstgenuss. Das Diktat der Sinne und der Vernunft ist aufgehoben, und der Mensch kann nach freiem Willen, ohne den Zwang seiner Triebe, handeln. Ästhetik ist also Befreiung und Ungebundenheit. Der Mensch kann Kraft aus diesem Zustand der Freiheit schöpfen. Schiller bezeichnet dies sogar, nach unserer ersten Schöpfung durch die Natur, als die zweite Schöpfung.

Im achtzehnten Brief heißt es: „Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet; durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergegeben.“ Zwischen Gefühlen und Vernunft, zwischen Vernunft und Natur vermittelt der Mensch auf spielerische Weise. Im fünfzehnten Brief schreibt er: „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ [Schillers Hervorhebung]  Man mag als erstes an die Schauspielerei denken – Spielen bedeutet hier jedoch Handeln ohne Pflicht und Notwendigkeit. Freiheit ist für Schiller also fest mit Schönheit verbunden, zumal beide die gleiche Ungezwungenheit und Leichtigkeit des Geistes voraussetzen. Die Kunst ermöglicht somit ein erfülltes Leben und persönliches Glück „weil es die Schönheit ist, durch welche man zur Freiheit wandert.“ (zweiter Brief)

Der Keim für Schillers ästhetischen Zustand ist möglicherweise schon bei Epikur zu finden, der in seinem Menoikeus-Brief Glück als Freiheit von körperlichem und seelischem Schmerz definiert. Dies im Gegensatz zu Aristoteles, welcher in der Nikomachischen Ethik Glück als die Ausübung der Tätigkeit schildert, die einem Menschen am besten liegt – also die freie Verwirklichung des eigenen Talents. Verbinden wir Epikur heute in erster Linie mit gepflegtem Hedonismus, weil der Ausgangspunkt seiner Philosophie das Streben nach Lusterfüllung ist, so schildert er in den Drei Lehrbriefen, die Diogenes Laertius gesammelt hat, aber auch in verschiedenen lose zusammenhängenden Sentenzen das Ziel menschlichen Strebens als „ataraxia“, das Ungestörtsein. Im Kontrast zur kurzfristigen Erleichterung nach der Befriedigung eines Triebes hat Epikur hiermit einen Zustand dauerhafter Ruhe im Sinn. Man muss nicht jeder Lust nachgehen; ebenso wie grundsätzlich die geistige Lust höher einzuschätzen ist als die Fleischliche. Epikur hat selbst ein sittliches Leben geführt, wie er dem Ideal des Weisen nachstrebte, der seine inneren Triebe durchaus erfüllen kann, sie aber auch nicht die Überhand gewinnen lässt.

Sind wir nicht vom Bereich der Schönheit abgeschweift und unversehens zum Glück geraten? Die Klammer zwischen beiden bildet der Begriff des „Schönen“. Der Mensch strebt seit Urzeiten nach dem Schönen in der Kunst, die ihn in einen Zustand höherer, innerer Ruhe erhebt, eine Freiheit vom Wollen. Er strebt nach dem Schönen in seinem eigenen Leben, in seiner Erfüllung durch beruflichen Erfolg, in der Verwirklichung seiner Talente, in der Gründung einer Familie. Insofern sollte die Schönheit als äußeres Phänomen und Abglanz dieses weiter gefassten Schönen in der zeitgenössischen Kunst nicht mit altklugem, überlegenen Lächeln als etwas Naives früherer Zeiten abgetan, sondern durchaus ernst genommen und gewürdigt werden. Sie erfüllt ein menschliches Urbedürfnis, das bis tief in die unerklärbaren Abgründe unseres Wesens reicht, und bis in die ferne Zukunft bei uns bleiben wird, wie schon seit den Tagen, als wir mit dem Pinsel Büffel and die Wände unserer Höhlen gemalt haben.

Bildquelle: Wikipedia