Das i-Tüpfelchen

Böse Zungen behaupten, dass dem Deutschen das Jammern in die Wiege gelegt sei und er über Generationen ein spezielles Hirnareal ausgebildet habe: den Jammerlappen. Wenn der Deutsche einmal doch den Gipfel der Glückseligkeit erreicht, so geschieht das nur im ganz Kleinen. Etwa mit dem Sahnehäubchen, der Kirche auf der Torte oder dem Tüpfelchen auf dem i.

Gerade das i-Tüpfelchen hat mich seit frühester Kindheit beschäftigt. Allerdings nicht als rhetorisches Stilmittel – so hochbegabt war ich zum Leidwesen meiner Verwandtschaft auch wieder nicht. Sondern als Geschäftsname eines inzwischen verschwundenen Kurzwarenhändlers im ostwestfälischen Herford.

Ich war noch ein Kindergartenkind und zählte die Minuten wie Stunden, in denen meine Mutter beim Kurzwarenhändler Stoffe aussuchte. Diese kostbare Lebenszeit, die sich wie ein Kaugummi in die Länge zog, verbrachte ich damit, „Krieg der Knöpfe“ zu spielen. Auch rätselte ich dann und wann über den Zusammenhang zwischen dem Tüpfelchen auf dem i und der Ware in diesem Geschäft.

Diese Verbindung blieb für mich noch auf Jahre im Nebel. Wohl weil ich nicht ganz bei der Sache war, denn meine Gedanken kreisten immer öfter um dieses „chen“ am Wortende. In meiner Muttersprache Russisch wurde und wird selbst unter Erwachsenen praktisch alles verkleinert und verniedlicht, was erheblich freundlicher und liebevoller klingt. In meiner (heutigen) Erstsprache Deutsch indes haftet dem „chen“ der Makel der Babysprache an. Erst Jahre später sollte ich dieses wichtige Detail herausfinden.

Mein Leben lang sprach ich von Löffelchen, Schühchen, Tütchen, Heftchen, Pferdchen und vielem mehr. Was für eine seltsame Marotte, müssen meine Mitmenschchen sich gedacht haben. Bis ich eines Tages einem Date vorschlug, zu später Stunde unter freiem Himmel sein Jäckchen anzuziehen, da es sich sonst die Ärmchen verkühle. Oft verrät ein Blick mehr als tausend Worte und wie sich herausstellte, hatte ich mit nur einer Äußerung tiefe Wunden im männlichen Selbstbewusstsein meines Gegenübers hinterlassen.

Wie der geneigte Leser bereits ahnt, war diese Paarkonstellation nicht von den Göttern gewollt. Glücklicherweise dauerte es nicht lange und ich fand das Töpfchen zu meinem Deckelchen. Und dass es meine sprachliche Marotte selig grinsend hinnimmt, ist nur das Tüpfelchen auf dem i.

Beitrag von: Tatjana Schmalz
Foto: JMG / pixelio.de