Die Nachtigall

Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.

Sie war doch sonst ein wildes Blut;
Nun geht sie tief in Sinnen,
Trägt in der Hand den Sommerhut
Und duldet still der Sonne Glut
Und weiß nicht, was beginnen.

Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.

Theodor Storm

 

Das Gedicht „Die Nachtigall“ aus dem Jahre 1864 gliedert sich in drei Strophen mit je fünf Versen. Das Reimschema lässt sich als „unechter Kreuzreim“ einordnen, da jeweils noch ein weiterer Vers eingefügt wird (ABAAB). Der eingeschobene vierte Vers jeder Strophe wiederholt oder vertieft den Inhalt des dritten Verses.

Die erste Strophe beschreibt das Zusammenspiel der Natur, wie es in der Romantik und in Märchen häufig aufgegriffen wird. Vom „süßen Schall“ (V.3) der Nachtigall, die „die ganze Nacht gesungen“ (V.2) hat, sind die Rosen erwacht und „aufgesprungen“ und zeigen ihre ersten Blätter. Die Nachtigall wird in der Literatur zudem oft mit der Liebe verbunden. Dies zeigt sich in dem Gedicht auch durch das Erwachen der Rosen, die ein weiteres Symbol für die Liebe sind.

In der zweiten Strophe bezieht sich Storm auf ein junges Mädchen, dass seine „wilden Jahre“ hinter sich hat und nun besinnlich und nachdenklich durch die Straßen zieht. (V. 6-7). Sie scheint nichts mit sich anfangen zu können (V. 10), „trägt in der Hand den Sommerhut“ (V.8) , der lieber auf ihrem Kopf sitzen sollte, doch sie lässt sich von der Sonne bescheinen (V.9).

Die dritte Strophe ist identisch mit der ersten Strophe. Diese Wiederholung im Anschluss an die zweite Strophe könnte sinnbildlich einen Vergleich des Mädchens und der Rosen meinen. Denn ähnlich wie das Erwachen der Rosen, scheinen bei dem Mädchen die jungen, wilden Jahren nun vorbei zu sein. Sie entfaltet langsam ihre Blätter, zeigt jedoch noch keine Blüten. Da die Nachtigall und die Rosen symbolisch für die Liebe stehen, könnten auch die ersten Liebesgefühle des Mädchens erwachen, weshalb sie „tief in Sinnen“ (V. 7) geht und womöglich an ihren Geliebten denkt. Deswegen ist Storms „Nachtigal“ kein „klassisches“ Liebesgedicht, obwohl es durchaus mit der Symbolik des Genres arbeitet.


Bild: Wikimedia, CC-Lizenz: Attribution-Share Alike 3.0 Unported, Autor: Schramme www.thorsten-schramm.de

1817 in Husum geboren schrieb Theodor Storm bereits in der Schule erste Gedichte und Prosatexte. Übrigens handelt auch das erste ihm zugeschriebene Gedicht „An Emma“ (1833), das er als 15-jähriger verfasste, vom Verliebtsein in jungen Jahren.
Nach seinem Jurastudium in Kiel und Berlin, eröffnete zunächst eine Anwaltskanzlei in Husum, jedoch wurde ihm die Advokatur aberkannt, weil er den Friedensschluss zwischen Preußen und Dänemark von 1850 öffentlich kritisierte. Nachdem er unruhige Zeiten in Potsdam und Thüringen durchlebte hatte, kehrte er nach dem Sieg der Deutschen im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 nach Husum zurück und wurde zum Landvogt berufen. Theodor Storm starb am 4. Juli 1879 auf seinem Alterssitz in Hadermarschen/Holstein.

Storm repräsentiert den deutschen Realismus, auch wenn viele seiner Werke häufig der Welt- oder Heimatliteratur zugeordnet werden. Obwohl seine novellistischen Arbeiten überwiegen, sieht Storm sich selber als Lyriker, dessen Werke von einer lyrischen, schwermütigen Grundstimmung geprägt waren. Der „Schimmelreiter“, seine wohl berühmteste Erzählung, erschien im April 1888 – nur wenige Montate vor Storms Tod.